Wien – Es hat schon etwas vom Streisand-Effekt, wie die Empörung über das öffentliche Zwangsouting von Elena Ferrante durch einen italienischen Journalisten die mutmaßliche Frau hinter dem Pseudonym jetzt erst richtig bekannt macht. Unter anderem in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung und der New York Review of Books war vergangenen Sonntag zeitgleich ein Artikel publiziert worden, der die wahre Identität der Autorin des erst kürzlich auf Deutsch erschienenen Bestsellers Meine geniale Freundin gelüftet haben will. Die Reaktionen darauf waren zwar empört, reproduzierten dabei aber eifrig Name und mitunter auch Foto der mutmaßlich entlarvten Anita Raja.

Die Sache schien an ein Ende gekommen, als sich die Enttarnte in der Nacht auf Mittwoch auf Twitter selbst zu Wort meldete und bestätigte, sie sei die Autorin des Bestsellers Meine geniale Freundin. Doch kurz darauf dementierte ihr Verlag und erklärte, bei besagtem Tweet handle es sich um einen Fake, der Account sei über Nacht mit einem gefälschten Bild Rajas angelegt worden: "Wir haben mit Raja gesprochen, sie hat keinerlei Twitter-Account angelegt."

Kurz zum Überblick: Seit 1992 war es Ferrante trotz anhaltender Spekulationen gelungen, ano- beziehungsweise pseudonym zu bleiben. Auf die Spur der Autorin hinter der Autorin gekommen sein will der italienische Journalist Claudio Gatti per Honorarrechnungen des Verlags Edizioni e/o, in dem Ferrantes Werke im Original erscheinen. Jener habe der nun an die Öffentlichkeit Gezerrten seit dem Bestsellererfolg der Ferrante-Bücher (auf Italienisch erschienen sie zwischen 2011 und 2014, bald auch auf Englisch) ein Vielfaches dessen überwiesen, was an Honorar aus ihrer Tätigkeit als freie Übersetzerin zu erklären sei. Mit nahezu voyeuristischem Eifer listet Gatti in seiner Offenlegung neben Rajas biografischen und familiären Details die Wohnungen in Rom auf, die sie mit jenen Einnahmen unter anderem erworben habe.

Das Recht des Lesers

Dabei geht Ferrantes Identität niemanden etwas an. Es verbindet sich mit deren "Kenntnis" kein öffentliches Interesse. Nicht einmal ein literarisches. Sie ist ein Übergriff. Denn anders, als Gatti argumentiert, hat der Leser kein Recht auf einen Autor. Er hat ein Recht darauf, unterhalten, bereichert, überrascht, berührt, gepackt, gebildet et cetera zu werden. Ein Autor aber muss, nur weil seine Bücher sich gut verkaufen, nicht per se eine öffentliche Person beziehungsweise eine Person öffentlichen Interesses sein. Er kann zu einer werden, wenn sein Werk ihn aus verschiedenen Gründen (etwa politische Propaganda, die er darin betreibt) dazu macht. Doch ist das bei Ferrante nicht der Fall.

Ein Buch brauche, ist es erst einmal geschrieben, seinen Autor nicht mehr, erklärte sie einmal. Das stimmt und stimmt nicht. Vielleicht hat Rajas "Neapel"-Saga es so aber sogar zu mehr Popularität gebracht, als sie es bei Offenlegung des Mysteriums Ferrante getan hätte. Eine willkommene Ergänzung zum Sprechen über Bücher: das Sprechen über Autoren. Es ist ja auch oft um einiges leichter. Selbst das Spekulieren.

Anonym und pseudonym

Einige Autoren in der Geschichte waren und sind bestrebt, sich der Öffentlichkeit zu entziehen. Der Rückzug ins Unbekannte, er gibt zum einen Ruhe – die in Venedig lebende Kriminalautorin Donna Leon etwa untersagt die Übersetzung ihrer Bücher ins Italienische. Um dem erwartbaren Hype zu entgehen, entschied sich J. K. Rowling, ihren nach der Harry Potter-Reihe publizierten Krimierstling Ein plötzlicher Todesfall mit "Robert Galbraith" zu zeichnen.

Zum anderen gibt er Freiheit zu schreiben, ohne Repressionen und Anfeindungen fürchten zu müssen. Jane Austen versah ihre Bücher zeitlebens mit der Verfasserangabe "by a lady", auch wenn die genaue Identität dieser Lady immer mehr zu einem offenen Geheimnis wurde. Schicklich waren ihre offenbarenden Beobachtungen der Gesellschaft jedenfalls nicht. Oft begaben sich Autorinnen zudem in die Pseudo- oder Anonymität, um Geschlechtervorurteilen zu entkommen oder patriarchalen Strukturen im Verlagswesen zu begegnen.

Das Prinzip Grenze

Sie habe sich mit der Entscheidung zur Anonymität einen eigenen, nur ihr gehörenden Raum geschaffen, bekannte die Autorin in der Vergangenheit in zahlreichen Interviews. Es ist nämlich nicht so, dass sie sich der Presse vollends entzogen hätte. Aber: "Für die, die Literatur lieben, reichen die Bücher", und Elena Ferrante schreibe Bücher – der Rest sei banales Privatleben. Der Rest war banales Privatleben bis zum vergangenen Sonntag.

Wie er nun auch ausgehen und welche Indiskretionen und Fakes er noch hervorbringen mag: Vergleichbar ist der Fall jenem, in dem ein amerikanischer Reporter des Magazins Daily Beast während der diesjährigen Olympischen Spiele durchs Athletendorf stapfte und anschließend schwule Athleten, die er per Datingapp "kennengelernt" hatte, in einem Artikel quasi outete. Es geht in beiden Fällen um Respekt vor Persönlichkeitsrechten und um die Akzeptanz von Grenzen. Und es geht um die Aufgabe, eine bloße Neuigkeit von einem Nachrichtenwert zu unterscheiden. (Michael Wurmitzer, 5.10.2016)