Flüchtlinge im vergangenen November an der slowenisch-österreichischen Grenze.

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Wien – Vor einer raschen Aktivierung der geplanten Asylnotverordnung schienen die handelnden Politiker zuletzt zurückzuschrecken. Bundeskanzler Christian Kern (SPÖ) bekräftigte auf Twitter, er wolle keine Verordnung, die Österreich – laut NGO-Kritik – "zu einem Notstandsland" erkläre.

Innenminister Wolfgang Sobotka (ÖVP) wollte sich erst "die Entwicklung ansehen". Die Verordnung müsse aber "mit einem Schlag" einsetzbar sein, "sollte die (für heuer vereinbarte) Obergrenze von 37.500 Asylanträgen durchstoßen" werden.

Zu einem solchen Einsatzbeschluss hätte Sobotka die Macht – sollte die zum Innenministerium ressortierende Verordnung samt ihren ausführlichen Erläuterungen wie angekündigt in den kommenden Wochen von Ministerrat und Hauptausschuss des Nationalrats verabschiedet werden. Bis Mittwoch lief die Begutachtung der umstrittenen Norm: Ihr zufolge könnten Asylsuchende unter Hinweis auf eine andernfalls bestehende Gefahr für die öffentliche Ordnung und innere Sicherheit nur mehr in Ausnahmefällen einen Asylantrag in Österreich einbringen.

UNHCR strikt dagegen

Entsprechend ablehnend sind die Stellungnahmen von Organisationen und Gruppen, die sich dem Schutz von Flüchtlingen verpflichtet sehen. Etwa vom UN-Flüchtlingshochkommissariat UNHCR; die Stellungnahme liegt dem STANDARD vor.

Wie schon im April, vor dem Beschluss der heurigen Asylnovelle, weist das UNHCR "erneut eindringlich auf die flüchtlingsrechtlich problematischen Auswirkungen" der Verordnung hin. Auch Menschen, "die aus Kriegsgebieten geflohen sind", hätten dann "keine Möglichkeit mehr auf Schutz in Österreich". Vielmehr würden die meisten dann "in die Nachbarländer zurückgeschickt", und zwar "ohne rechtsstaatliche Mindestgarantien".

Problem Zurückweisungen

Damit spricht das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen die laut Verordnung vorgesehenen, von Polizisten statt Asylbeamten durchzuführenden Grenzverfahren an. Im Zuge derer soll über Zurückweisung oder Einreise entschieden werden.

Das führt auch beim Roten Kreuz zu Bedenken. In ihrer Stellungnahme weist Österreichs größte Hilfsorganisation auf "aktuelle Entscheidungen der Landesverwaltungsgerichte" über die Zurückweisung von Flüchtlingen vergangenen Winter in Spielfeld hin. Wie DER STANDARD berichtete, wurden diese aufgrund von Verfahrensmängeln wie unzureichende Dolmetscher aufgehoben. Ähnliches, so das Rote Kreuz, sei auch im Fall verordnungsbedingter Zurückweisungen möglich.

Rotes Kreuz für objektive Kriterien

Die Asylnotverordnung selbst besteht nur aus zwei Sätzen über die "Gefährdung" von Ordnung und Sicherheit sowie das Inkrafttreten der Norm. Hier vermisst das Rote Kreuz "objektive Kriterien, wann und wodurch" Gefahr bestehe. Etwa, dass dies nach Erreichen der vereinbarten Obergrenzen für Asylanträge der Fall sei, konkretisiert die Rote-Kreuz-Juristin Leonie Rosner. Die Folge: Die Entscheidung, wann die Verordnung aktiviert werde, liege "weitestgehend im freien Ermessen".

In den Erläuterungen zur Asylnotverordnung wird die drohende Überlastung der innerstaatlichen Systeme durch zu viele Asylwerber ausführlich begründet. Das Land Niederösterreich vertieft dies in seiner Stellungnahme zusätzlich: Die Stimmung in vielen Gemeinden habe sich infolge des Andrangs 2015 derart "verschlechtert", dass nun selbst "kleinere Flüchtlingswellen" unterbringungstechnisch nicht gemeistert werden könnten.

Vor den Augen des Roten Kreuzes finden solche Ausführungen keine Gnade. Die Zahl von Asylanträgen nehme seit Monaten ab, tausende Quartiere stünden leer. Nach "jahrzehntelanger Erfahrung" in der Bewältigung von Krisen sei "nachdrücklich festzustellen, dass in Österreich keine Anzeichen für eine ernsthafte Notsituation" vorlägen.

Verordnung gegen Binnenmarkt

Vielmehr bestehe das Risiko, dass sich Österreich europarechtlich in eine Außenseiterposition manövriere, meint der Mitverfasser der Stellungnahme der ÖH, Peter Marhold. Im Unterschied zu der in den Erläuterungen vertretenen Ansicht interpretiere der Europäische Gerichtshof den Begriff der öffentlichen Ordnung "sehr eng". Und die laut Verordnung angestrebten strengen Grenzkontrollen würden auch wegen ihrer "Folgen für den Binnenmarkt" hinterfragt werden. (Irene Brickner, 4.10.2016)