Ganz ehrlich? Vor diesem Sonntagmorgenlauf war ich nervös. Aber das ist eh gut so. Denn auch wenn ich mir dieses Jahr wettkampftechnisch ganz anders vorgestellt hatte und mich 21 Kilometer – erst recht angesagt gemütlich – nicht aus der Ruhe bringen sollten, war heuer eben anders. Statt – wie geplant – VCM, der Tri-Halbdistanz bei Zadar, dem Ötillö sowie Wachau, Bodensee-Dreiländermarathon voll und eventuell noch Athen zum Saisonschluss stand ab dem Frühjahr, ab Linz, nicht die Frage wann, sondern ob ich wieder laufen würde, in Großbuchstaben an der Wand. Nicht leiwand. Echt nicht.

Foto: Thomas Rottenberg

Und jetzt, wo es wieder halbwegs geht, traue ich mir nicht ganz: Am Sonntag ist am Bodensee der Dreiländermarathon. Der Veranstalter hat mich eingeladen. Für die Volldistanz – aber aus meiner Perspektive ist es schon ein Triumph, dass Trainerin, Physiotherapeut und Herzdame mir den Segen zur Halbdistanz gaben: Konditionell und gesundheitlich wäre zwar auch ein ganzer drin – aber fehlende Kilometer sind fehlende Kilometer: 42 Kilometer sind kein Spaziergang. Unabhängig vom Tempo. Ja eh: 21 auch nicht. Darum gab es eine Bedingung: Ich darf – langsam. Und die Begleitung entscheidet, wie langsam. Oder ob ich raus bin. Ja, auch wenn alle wissen, dass ich es kann.

Am Sonntag war Generalprobe. 18 Kilometer solo. Wettkampf-Setup. Aber vor allem: langsam.

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Ich suchte eine Route, die ich zwar kenne, aber auf der ich noch nicht jeden Schritt im Schlaf draufhabe. Themen helfen da. Diesmal: Türme. Dazu später mehr.

Das zweite Thema war wie so oft die Schlafstadt. Die Stadt ist eine Bühne, der man beim Übergang von der Nacht in den Tag beim Wechsel von Masken und Besetzung zusehen kann: Wien ist eine reiche, gute, wohlhabende Stadt. Die, die nicht in dieses Bild passen, spielen mit. Sie haben gelernt, tagsüber unsichtbar zu sein. Nacht? Die verschluckt sie. Aber im Morgengrauen sind sie da. Wer einmal verlernt hat, sie zu übersehen, sieht auch, dass es mehr werden.

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Doch der frühe Morgen hat mehr zu bieten: Kids, die aus den Clubs heimwanken, gehören zum Straßenbild genauso wie die Obdachlosen in den Geschäftseingängen und Nischen – und, während der Woche, die Frühschichtler auf dem Weg zur Arbeit. Und die Frühsportler.

Die Faustregel sagt: Je früher die Stunde, desto härter der angepeilte Bewerb. Fragen Sie mal – falls Sie es um vier in der Früh raus schaffen.

Wobei es auch Ausreißer gibt. Und Überraschungskandidaten: Dieser Geselle war weder auf der Flucht vor einem zum falschen Zeitpunkt heimgekehrten Ehemann noch stand er unter Drogen: Er lief. Und warf mir ein "Thumbs up" zu.

Foto: Thomas Rottenberg

Tags zuvor hatte ich die Installation aus Hamburg hier schon bewundert: Die Elbphilharmonie ist in meiner abwechselnd liebsten und zweitliebsten deutschen Stadt ein feiner Eyecatcher. Das Ding, das da im Museumsquartier stand, war auch ganz nett. Nur: Tagsüber war ein bisserl viel los gewesen, um mit den Spiegeln zu spielen – aber dass man sich das norddeutsche Spiegelspiel auch zur Earlybirdstunde mit anderen würde teilen müssen, überraschte. Auch die anderen, die schon hier waren.

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Der Weg durch die Stadt hat Standards. Wie jeder Weg, den man oft abspult: Will ich zum Fluss oder in den Prater, gehören Museen und Ringstraße dazu. Parlament, Burgtheater, Rathaus – auch wenn viele glauben, dass das immer gleich ist: Bespielung und Inszenierung der Stadt zu beobachten, ist spannend. Immer wieder anders. Erst recht, wenn man den Fokus wechselt: Schläfer und Türme heute, Tiere morgen, Graffitis und schlechte Kunst übermorgen …

Wer nur noch über das Display des Smartphones mit der Außenwelt kommuniziert, wird aber nur sehen, was Algorithmen ihm vorsetzen. Und die funktionieren nach einem schlichten Prinzip: Keine Brüche und Kanten – dafür more of the same. Bis man vergisst, dass Neugierde mit "Neu-" beginnt.

Foto: Thomas Rottenberg

Keine Ahnung, wieso ich den Augarten so selten in meine Runden einbaue. Okay, eigentlich schon: Dafür, dass der Park nicht vor meiner Haustür liegt, ist die Runde zu kurz. Ziemlich genau zwei Kilometer. Und als ich noch hier wohnte, war mir Laufen in etwa so nah wie Nordkoreas Raumfahrtpläne heute sind.

Hier, beim Wallensteinplatz, war meine erste eigene Wohnung. In den 1990ern. Augarten und Umland waren damals kein Teil von Bobostan. Aber mein Wohnzimmer. Bei Tag und bei Nacht. Wo man wie am einfachsten über welches Tor drüberkam, wusste ich ganz genau – aber erfunden habe ich das Reinklettern in den Barockpark wahrlich nicht: Eher schon habe ich diese Lust geerbt. Von meinem Vater.

Foto: Thomas Rottenberg

Der ist nämlich hier aufgewachsen. Lange bevor ich das Wort "Mazzesinsel" kannte oder einen Fuß hierher gesetzt hatte, kannte ich Geschichten aus dem Park: von Buben, die über die Mauer (es waren nie Tore, immer Mauern – fragen Sie mich nicht, wieso) in den Park kamen, um verbotenerweise Fußball zu spielen. Bis die – berittene – Polizei kam. Und man sich in wilder Flucht, quer durch das Dickicht zur Mauer und darüber rettete.

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Mein Vater wäre nächstes Jahr 100 Jahre alt. Aber erst unlängst fiel mir auf, dass er mir als Kind immer vom Augarten erzählte – wir aber, als ich hier wohnte, nie gemeinsam dort waren. Auch, weil er – glaube ich – Flaktürme anders sah als ich. Für mich gehören sie zur Stadt. Waren immer da. Erinnern – sind aber bezwingbar. Emotional und physisch. Mit Ausnahme des Augarten-Feuerleitturmes war ich schon in allen sechs. Drinnen wie oben (falsch: das Dach des Stiftsbunkers fehlt mir). Im Esterhazypark klettere ich außen. Ich kenne ihre Geschichte und Genese. Ihre Funktion und Technik. Ihre – relative – Unzerstörbarkeit. Und die Pläne, sie nach dem "Endsieg" in marmorverkleidete Monumente der Überlegenheit der deutschen Rasse zu machen. Und sonst noch allerlei Schmonzes.

Foto: Thomas Rottenberg

Das sind meine Flaktürme. Die meines Vater sahen anders aus: Er floh 1938 – und kam als britischer Soldat zurück. Doch in "seinem" Park, diesem Ort seiner Kindheit, standen jetzt diese Teile. Unverrückbar. Nicht aus dem Bild zu schieben. Mittendrin in dem, was früher schön war. Monumente der unbeschreiblichen Barbarei, die zwar Teil meiner Geschichte ist, aber trotzdem immer ein abstrakter Horror bleiben wird. Für meinen Vaters war der Holocaust alles andere als abstrakt. Auschwitz-Birkenau, Theresienstadt, Bergen-Belsen: Wenn sich der Weg der eigenen Mutter zwischen diesen Orten verliert, ist das persönlich.

Da braucht man den Blick auf die Türme nicht, um nie zu vergessen.

Foto: Thomas Rottenberg

Dass ich heute mit dem größten Vergnügen am Esterhazyflakturm klettere, hätte er nicht nachvollziehen können. Auch nicht, dass ich es für wichtig halte, dass diese Trümmer unübersehbar mitten in einigen der schönsten Teile der Stadt stehen. In Boboland. Im Park. Am Spielplatz: Irgendwann fragt jeder, wieso diese grauen Riesen hier sind. Zum Weglügen sind sie zu groß, zum Schönreden zu hässlich. Gut so.

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Aber ich musste zum Läufer werden, um die Türme zu verstehen. Eines Morgens saß auf einer der Bänke in der Nähe des Augarten-Feuerleitturmes ein älterer Orthodoxer auf einer der Parkbänke. Er wartete auf einen anderen, ebenfalls Frommen, der vom anderen Ende der Allee näher kam.

Ich war mit einem Freund unterwegs. Plötzlich blieb der stehen, zeigte auf die Männer: "Die Türme", sagte er dann, "hätten in Marmor das 1000-jährige Reich und den Sieg der arischen Rasse und die Vernichtung aller 'minderen Rassen' feiern sollen. 940 Jahre vor dem Ablaufdatum stehen da nur noch Ruinen – und aber du, ihr, wir – wir sind hier. Das tut gut." Seither muss ich jedes Mal lächeln, wenn ich bei den Türmen laufe.

Foto: Thomas Rottenberg

18 Kilometer im Augarten wären trotzdem öd. Auch, weil es noch andere, weit weniger belastete Türme in der Stadt gibt, die man einbauen kann: Den Millenniumtower zum Beispiel.

Vor dem Bau des DC-Towers war dieser Turm ja lange nicht nur Österreichs, sondern sogar Europas höchster Büroturm – und weil ich, bevor ich die Stadt in der Horizontalen laufend erkundete, den Ehrgeiz besaß, die hohen Gebäude vertikal kennenzulernen, war ich hier ziemlich überall: Ich war dabei, als der Pool am Dach (offiziell Teil der Sprinkleranlage) erstmals befüllt wurde, kletterte auf den Antennenmasten bis ganz nach oben, fuhr mit den Fensterputzern an der Außenwand spazieren (und erschreckte Büromenschen dahinter), seilte mich hier auch ab und war hier sogar Speed-Liftsurfen: alles offiziell, im Auftrag irgendwelcher Medien – Jahrzehnte bevor das Wort "Urban Explorer" erfunden war.

Foto: Thomas Rottenberg

Das Beste an der Millennium-City ist die Verbindungsbrücke von der Mall ans Donauufer. Und das Beste an dieser Brücke ist, dass man sie auch am Sonntag benutzen kann. Die Mall ist dann zwar eine Geisterstadt, in der ein paar Kids Skateboard fahren und in der man vermutlich großartige Teenie-Horror-Filme drehen könnte – aber da einfach quer durch zu laufen, war für mich ein "First", das mich einigermaßen überraschte: Ich hätte einiges darauf verwettet, dass hier alles dichtgemacht wird, sobald man nicht konsumieren kann. Irrtum. Und wieder einmal: Gut so.

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Denn nach dem Konsum kommt der Fluss. Und dass Wien in den vergangenen Jahren seinen Status von "neben dem Wasser" zu "am Wasser" verändern konnte, ist für mich eines der großen Assets dieser Stadt. Den Hashtag #whyilovevienna setze ich an solchen Stellen ganz bewusst – und gerne. Und in Augenblicken wie diesem finde ich sogar Tauben malerisch. Dass die alte Frau, die hinter mir in Richtung Fluss kam, zu zetern begann, weil ich die "armen Viecherln" jetzt so erschreckt hätte, dass sie nun "viel zu nervös für das gute Frühstück, das ich ihnen bring", seien, steht dazu in keinem Widerspruch: Auch das fällt unter den Hashtag. Obwohl ich es ja eher mit Georg Kreisler halte: "Tauben vergiften im Park".

Foto: Thomas Rottenberg

Flussabwärts – ab der Brigittenauer Brücke lief ich dann auf der Donauinsel – gönnte ich mir einen Zwischenstopp bei einer Skulpturengruppe, die ich mir seit Jahren aus der Nähe ansehen wollte. Aber meistens sitze ich dann, wenn ich hier vorbeikomme, auf dem Rad.

Diesmal passte es aber. Wobei ich mir auch bei diesem "First" nicht die Mühe machte, nach einem Schild zu suchen, auf dem der Name der Skulptur oder des Künstlers nachzulesen gewesen wäre.

Was mich hier fasziniert? Dass ein derartiges Ensemble pubertäre Geister provozieren muss, sollte auch dem am höchsten Punkt seines Kunstelfenbeinturmes sitzenden Kulturpolitiker und Kunst-im-öffentlichen-Raum-Verwalter klar sein. Und dass an einem Ort wie der Donauinsel dann der Sprung vom Pubertären zum Vulgären … egal. Sie wissen es eh.

Foto: Thomas Rottenberg

"Kunst im öffentlichen Raum" ist heute ebenso wenig mein Thema wie Vandalismus: Türme und Schläfer sind das Motto. Auf der Insel lässt sich beides hervorragend beobachten: Die Donaucity hat man ständig im Blick. Und die schrägen Flächen des DC-Towers erweisen sich immer mehr als ziemlich geniale Lichtbrecher zu so ziemlich jeder Tageszeit.

Zum anderen aber ist die Insel auch ein Wohnort. Ein Refugium: Der Mann am Picknicktisch ist nicht der typische Obdachlose – aber das Ding auf der Bank ist sein Schlafsack. Und rings herum liegt sein Hab und Gut: Tagsüber schafft er es (noch), in der Masse der Passanten unterzutauchen. So wie etliche der Schläfer unter den Brücken der Insel oder auf den Bänken hier. Aber am frühen Morgen funktioniert die Tarnung nicht.

Foto: Thomas Rottenberg

Andere versuchen es gleich gar nicht mehr: Wo Tangente und U2 die Insel queren, wohnen einige Punks. Tagsüber sind manche von ihnen auf der Mariahilfer Straße anzutreffen. Ihr Zeug verstauen sie beim Aufbruch am frühen Morgen irgendwo in den Büschen der Insel – oder im Prater.

Manchmal entstehen da sogar richtige kleine Planen – und Zeltstädte im Niemandsland. Unter den Brücken – aber auch in den abgelegeneren und weniger leicht erreichbaren Busch-Landschaften auf der Insel oder im Prater.

Foto: Thomas Rottenberg

Im Vorjahr zum Beispiel standen auf einer kleinen Insel vor der Donauinsel in der Donau – genau gegenüber dem schicken Riverside-Hotel, aber doch vom anderen Flussufer nicht auszumachen – fünf oder sechs Zelte. Um sie zu erreichen, musste man entweder durchs Wasser waten oder ein Floss benutzen: Dass ich der Einzige war, der das Camp beim Vorbeilaufen je gesehen hat, ist mehr als unwahrscheinlich. Aber Wien ist mitunter eben anders: Manchmal ist Wegschauen nämlich auch okay. Nicht oft – aber eben manchmal. So wie bei dem Mann, der hier sein halbfixes Domizil aufgeschlagen hat.

Foto: Thomas Rottenberg

Auf dem Weg zurück auf die innerstädtische Donauseite fiel mir dann aber noch etwas auf: Ich bin auf der Insel von drei oder vier Tandems überholt worden. Und jetzt, auf der Brücke, kamen mir noch einmal mehrere entgegen. Die meisten Tandems hatten einen freien Platz: Bei einem Zweirad wäre das nicht weiter aufgefallen – aber innerhalb einer halben Stunde sechs oder sieben Tandemfahrern zu begegnen, ist in Wien an sich schon nicht so alltäglich. Und dass dann die Hälfte Einzelfahrer sind …

Das Rätsel löste sich am Nachmittag von selbst: Auf Facebook wurde ich gefragt, ob ich eventuell jener Läufer gewesen sei, den man beim Überholen gegrüßt hätte. Ja, danke nochmal. Gegenfrage: Was war das für eine Tandem-Versammlung? Antwort: "Teamausfahrt vom VSC ASVÖ Wien und dem BBI nach Kittsee." Das eine Kürzel steht für die "Versehrtensportler", BBI für "Bundesblindenerziehungsinstitut" – aber wer die Damen und Herren mal beim Sport gesehen hat, denkt über das Wort "behindert" dann gerne nochmal nach. Da relativiert sich nämlich eine ganze Menge.

Foto: Thomas Rottenberg

Hauptallee. Es ist halb neun Uhr morgens, und die Hauptallee beginnt zu leben. Ein paar Läufer kommen mir mit Zetteln in der Hand entgegen – und grinsen eigentümlich vor sich hin.

Einige Bäume weiter sehe ich, wieso: Irgendjemand hat da "Waschanleitungen" an die Bäume gehängt. Flugzettel über Kastanien als Waschmittelersatz. Spannend – aber heute nicht mein Ding: Ich bin zwar gemütlich unterwegs, aber so viel Zeit, jetzt ein paar Kilo Wildschweinfutter einzusammeln, habe ich auch nicht. Ein anderes Mal. Vielleicht. Na ja: vermutlich eher gar nicht – ich kenne mich. Obwohl es den Versuch ja wert wäre.

Foto: Thomas Rottenberg

Als ich auf die Hauptallee einbog, hatte ich 17 Kilometer am Tacho stehen. 18 hatte Sandrina, meine Trainerin, mir in den Plan geschrieben. Locker und entspannt. Bloß: Mitten auf der PHA – also der Prater Hauptallee – vom Laufen ins Gehen zu wechseln, nur weil da eine vorgegebene Zahl erreicht ist, wäre auch ein bisserl blöd. Noch dazu, wenn man den ganzen Lauf ohnehin locker und gemütlich und ohne jeden Druck runtergewuzzelt hat und nicht nur keine nennenswerten, sondern gar keine Probleme hatte: Die Generalprobe hat geklappt. Der Bodensee kann kommen.

Obwohl mich das jetzt doch auch wieder unruhig macht: Was bei Generalproben nicht schiefgeht, versemmelt man nämlich dann bei der Vorstellung. Oder so ähnlich. (Thomas Rottenberg, 5.10.2016)

Mehr Geschichten vom Laufen in der Stadt gibt es unter www.derrottenberg.com.

Die Teilnahme am "Sparkassen-Dreiländermarathon" erfolgt auf Einladung der Veranstalter.

Foto: Screenshot Thomas Rottenberg