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Yoshinori Ōsumis Forschungen sind für die verschiedensten medizinischen Gebiete relevant, unter anderem für neurologische Erkrankungen oder Krebs.

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Stockholm – Der 71-jährige Japaner Yoshinori Ōsumi vom Tokyo Institute of Technology hat den diesjährigen Medizin-Nobelpreis für seine Entdeckung der Mechanismen der sogenannten Autophagie erhalten – jenes Prozesses, mit dem Zellen eigene Bestandteile abbauen und verwerten.

Ōsumis Entdeckungen führten laut dem Nobelpreiskomitee zu einem neuen Paradigma im Verständnis davon, wie die Zelle ihre Inhalte wiederverwendet. Seine Erkenntnisse öffneten den Weg zu einem besseren Verständnis der grundlegenden Bedeutung von Autophagie in vielen physiologischen Prozessen wie beispielsweise bei der Anpassung an Hunger oder bei der Reaktion auf eine Infektion. Mutationen in Autophagie-Genen können Krankheiten verursachen, zudem ist der autophagische Prozess unter anderem an Krebs und neurologischen Erkrankungen beteiligt.

Der Laureat gab sich indes bescheiden: "Seit 27 Jahren arbeite ich an dem Thema, aber ich habe nicht das Gefühl, dass ich das alles verstanden habe. Es gibt noch vieles zu entdecken, und ich möchte meine Forschung weitertreiben", sagte Ōsumi gegenüber dem japanischen Fernsehsender NHK.

Schwedisch-japanischer Symbolismus: Autophagie anschaulich dargestellt.
Foto: APA/AFP/JONATHAN NACKSTRAND

Das Wort "Autophagie" stammt aus dem Griechischen und bedeutet nichts anderes als "Selbstessen" oder auch "Selbstverdauung". In den 1960er-Jahren beobachteten Forscher erstmals, dass die Zellen ihre eigenen Inhalte zerstören können.

Ōsumi klärte die molekularen Mechanismen der Autophagie am Beispiel von Hefezellen und später auch von Säugetierzellen, die sich durch Abbau körpereigener Proteine auf gewandelte Umweltbedingungen einstellen. Dabei identifizierte er mit seiner Gruppe die beteiligten Enzyme, deren Regulierung je nach Stoffwechselzustand sowie den Mechanismus der Bildung von Autophagosomen (Membranen, die die abzubauenden Proteine umschließen und an Vakuolen oder Lysosomen abgeben).

Seine vielleicht wichtigste Arbeit publizierte Ōsumi 1993, als es ihm gelang, 15 Gene zu beschreiben, die bei der Autophagie in Zellen von Bäckerhefe eine entscheidende Rolle spielen. In einer Reihe von "eleganten" (so das Nobelpreiskomitee) Nachfolgestudien klonte er einige dieser Gene in Hefe- und Säugetierzellen und konnte so die Funktion der jeweiligen Proteine entschlüsseln. Erst aufgrund dieser Entdeckungen wissen wir heute mehr über die grundlegende Bedeutung von Autophagie für Krankheits- und auch Alterungsprozesse.

"Yoshinori Ōsumi weiß alles"

Fumiyo Ikeda vom Wiener Institut für Molekulare Biotechnologie der Österreichischen Akademie der Wissenschaften sagte: "Yoshinori Ōsumi weiß alles. Er kennt alle Geschichten. Er ist zentrale Figur dieses Forschungsgebietes." Seine gewonnenen Erkenntnisse seien "grundlegende Beiträge zu Abläufen in Zellen."

"Das System der Autophagie ist fundamental für das Funktionieren der Zellen. Es geht darum, wie die Zelle Mist loswird", schilderte die Wissenschafterin die Bedeutung der Aufklärung der Mechanismen der "Selbstverdauung" von Proteinkomplexen und Organellen. Die Regulation dieser Prozesse sei von enormer Bedeutung. Auf den Arbeiten von Ōsumi aufbauend seien mittlerweile auch viele seiner Mitarbeiter und Schüler auf diesem Fachgebiet bekannt geworden.

Weitere Reaktionen

Frank Madeo vom Institut für molekulare Biowissenschaften der Karl-Franzens-Universität Graz wies darauf hin, dass es mittlerweile zahlreiche Arbeiten an Tiermodellen gibt, die zeigen, dass verschiedenste Formen der Neurodegeneration durch die Induktion von Autophagie bekämpft werden können. Das liege daran, dass im Grunde alle neurodegenerativen Erkrankungen wie Alzheimer, Parkinson oder ALS auf der exzessiven Aggregation oder Verklumpung von Proteinen beruhen, die die Funktion der Nervenzelle stören.

Die Erhöhung der Autophagie-Rate räume mit diesen Proteinaggregaten auf, indem sie die Verdauung der Aggregate bewirke. Das funktioniere sowohl pharmakologisch (durch die Autophagie-Induktoren Rapamycine oder Spermidin) als auch physiologisch (durch den Autophagie-Induktor Fasten/Nahrungsentzug). Klinische Studien am Menschen würden bereits laufen.

Michael Jantsch, Zell- und Entwicklungsbiologie an der Med-Uni Wien, schilderte den Ablauf der Prozesse so: "In den Zellen müssen viele Proteine und Organellen, die im Laufe von Alterungsprozessen zum Beispiel durch Oxidation geschädigt worden sind, abgebaut werden. Sie werden deshalb dafür markiert und bei der Autophagie mit einer Membran umgeben." In diesen Bläschen wird der "Abfall" zu den Lysosomen – Bläschen mit Abbauenzymen – transportiert. Die Membran verschmilzt mit dem Lysosom, und die Fracht ist damit bei der Müllentsorgung angekommen. Man habe mit gestörten Autophagie-Abläufen vor allem manche Tumorerkrankungen in Verbindung bringen können, aber auch altersbedingte Krankheiten.

Für das Funktionieren des Organismus notwendig

Claudine Kraft von den Max Perutz Laboratories (MFPL) in Wien forscht direkt an Autophagie. "Man wusste schon lange, dass es einen solchen Mechanismus gibt. Ōsumi hat das erste daran beteiligte Gen entdeckt, das er ATG1 nannte. Er entdeckte danach 14 weitere Gene, die an Autophagie beteiligt sind." Neben der Beseitigung von Abfall in den Zellen sei die "Selbstverdauung" aber auch für mehrere andere Prozesse wichtig.

"So können damit in die Zelle eingedrungene Pathogene, zum Beispiel Bakterien, erkannt und beseitigt werden. Darüber hinaus erlaubt die Autophagie ein Recycling in der Zelle. Wenn eine Zelle keine Nährstoffe erhält, beginnt sie mit Autophagie, um daraus wieder Bausteine zu erhalten." Kommen Mäuse mit ausgeschalteter Autophagie auf die Welt, verhungern sie, weil ihnen bis zur Versorgung mit Muttermilch die notwendige Energiezufuhr fehlt.

Wichtig sei die Forschung für das Verständnis von neurodegenerativen Erkrankungen. "Wenn man bei Mäusen ausschließlich im Gehirn die Autophagie ausschaltet, kommen sie zwar lebend zur Welt. Sie zeigen aber sofort Symptome von Morbus Alzheimer und Morbus Parkinson." Das weist darauf hin, dass etwas Autophagie für das Funktionieren des Organismus einfach notwendig ist.

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Kaum gewonnen, schon begehrter Interviewpartner: Yoshinori Ōsumi an einem nicht ganz normalen Arbeitstag. Im Hintergrund flimmert der Nobelpreis-Stream, der heuer unter heftigen technischen Problemen litt.
Foto: Reuters/Kyodo

Der weitere Fahrplan

Am Dienstag und Mittwoch (jeweils ab 11.45 Uhr) folgen die Bekanntgaben in den Kategorien Physik und Chemie. Nach den wissenschaftlichen Kategorien werden am Donnerstag der Literatur- und am Freitag der Friedensnobelpreis verkündet.

Alle Nobelpreise sind mit je acht Millionen schwedischen Kronen (831.500 Euro) dotiert. Überreicht werden sie am 10. Dezember, dem Todestag des Preisstifters und Dynamit-Erfinders Alfred Nobel. (red, 3.10.2016)