Wien – Für uns Spätgeborene ist Goethes Hermann und Dorothea (1797) der Inbegriff bürgerlicher Behaglichkeit. Gewiss, da zieht ein Treck deutscher Flüchtlinge ostwärts, hinüber auf die rechtsrheinische Seite. Die Kleinstädter, darunter Hermanns freundliche Spießereltern, entbieten mildtätige Gaben. Der gute Sohn verliebt sich unsterblich in ein couragiertes Flüchtlingsmädchen.

Das alles rollt und schnurrt in gemütlichen, nichtsdestotrotz meisterhaften Hexametern vorüber. Man muss das Okular ordentlich schärfen, um das Beunruhigende der Botschaft aufzuschnappen. Oder man hat eben im Burgtheater zwei Vortragskünstler zur Hand, die das Gerücht von Deutschtümelei und Biedersinn in höhere Ironie auflösen.

Maria Happels und Martin Schwabs Lesetische treiben wie Barken auf einem Meer von elektrischen Teelichtern. Regieveteran Alfred Kirchner leistet an Hermann und Dorothea beherzt Wiedergutmachung. Das Vorbild Homers lässt an eine Irrfahrt denken. Sie treibt Flüchtlinge aus allen Zeiten und Welten um und zielt mitten ins Herz unserer Wohlanständigkeit. Jeder der neun Gesänge ist nach einer der Musen benannt. Nach Vortrag jeder Episode wird ein Blumenkranz um ein Teelicht gelegt oder an einer Fototafel – das glitzernde, blendende Meer – befestigt. Vor allem aber fließt Goethes köstliche Suada den beiden Schauspielern wie ätzende Lauge von den Lippen.

Schwab steigert sich hinein in den Furor des Biedermanns. Happel zieht, zumal als Wirtsfrau, alle Register der Lebensklugheit. Beide, Wirt und Frau, schlüpfen behände in die Rollen von Sohn, Pfarrer, Schwiegertochter und Apotheker. Vor allem aber rollt Goethes Sprache wie die Brandung eines sorgsam eingehegten Meers. Am Schluss ist alles gut und auf den Weg gebracht. Der störrische Bub ist mit der Durchreisenden verlobt, die kluge Einrichtung der Welt ändert nicht das Geringste an ihrer Gebrechlichkeit. Der Mensch ist jemand, der "zur schwankenden Zeit auch schwankend gesinnt ist".

Da hat man sich gar nicht sattgehört an Schwabs störrischem Eigensinn, an Happels pfiffiger Wildheit. Die Musik Gianmaria Testas berückt ebenso wie das Adagio aus Schuberts C-Dur-Quintett (gegenüber Schubert war Goethe harthörig). Einhelliger Jubel für ein vermeintlich klitzekleines, in Wahrheit unerhörtes Werk. (Ronald Pohl, 2.10.2016)