Beirut/Aleppo – Seit dem Beginn der russischen Militärintervention in Syrien vor einem Jahr sind dort laut Aktivisten durch russische Luftangriffe fast 10.000 Menschen getötet worden. Mindestens 20.000 weitere seien verletzt worden, erklärte die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte am Freitag. Russland wies die Angaben umgehend zurück.

Nach Angaben der Beobachtungsstelle wurden seit dem 30. September 2015 mehr als 9.300 Menschen von der russischen Luftwaffe getötet. Neben 3.804 Zivilisten waren darunter auch fast 2.750 Kämpfer der Jihadistenmiliz "Islamischer Staat" (IS) und gut 2.800 Mitglieder islamistischer und anderer Rebellengruppen. Die Angriffe wurden anhand der Flugzeugtypen, Angriffsorte und der verwendeten Munition Russland zugeordnet.

Kreml nennt Zahlen unglaubwürdig

Kreml-Sprecher Dmitri Peskow wies die Angaben der Beobachtungsstelle zurück und bezeichnete die Zahl von fast 10.000 Toten als unglaubwürdig. Die Informationen der Beobachtungsstelle seien nicht zuverlässig, da sie in Großbritannien und nicht vor Ort ansässig sei, sagte Peskow. Die oppositionsnahe Organisation bezieht ihre Angaben von Ärzten und Aktivisten in Syrien, für Medien sind sie meist nur schwer zu überprüfen. Mangels anderer Quellen in Syrien ist die Beobachtungsstelle aber eine wichtige Informationsquelle.

Obama und Merkel verurteilen Attacken

US-Präsident Barack Obama und die deutsche Kanzlerin Angela Merkel verurteilten die jüngsten "barbarischen" Attacken auf Aleppo. Sie seien sich in einem Telefonat einig gewesen, dass die Regierung in Damaskus und ihr Verbündeter Russland eine "besondere Verantwortung" zur Beendigung der Kämpfe in Syrien trügen, teilte das Weiße Haus mit.

Ärzte ohne Grenzen forderte Damaskus und Moskau auf, "das Blutvergießen" im von Rebellen gehaltenen Ostteil Aleppos sofort zu stoppen. Der gesamte Osten der Stadt sei eine einzige "Todeszone", über der ein stetiger Bombenhagel niedergehe. Die Organisation Save the Children warnte, wegen der Luftangriffe mit bunkerbrechenden Bomben seien Kinder in Aleppo nirgendwo mehr sicher.

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) forderte die Konfliktparteien unterdessen auf, dringende medizinische Hilfe für Kranke und Verletzte in Aleppo zu ermöglichen. "Die Lage (in Aleppo) ist herzzerreißend und macht einen wütend", sagte WHO-Generaldirektorin Margaret Chan am Freitag in Genf. Allein in dieser Woche seien im Osten der Stadt mindestens 840 Menschen verletzt worden, erklärte der WHO-Direktor Rick Brennan. Medizinische Hilfe für 140.000 Verletzte oder Kranke stehe seit Wochen zum Transport nach Aleppo bereit. Allerdings gebe es keine Genehmigung der Regierung in Damaskus.

Widersprüchliche Angaben zum Verlauf der Kämpfe

Über den Verlauf der Kämpfe gab es am Freitag widersprüchliche Angaben. Die mit der Regierung verbündete Hisbollah-Miliz erklärte über ihren Fernsehsender Al-Manar, die Armee habe die Region um das Krankenhaus Al-Kindi unter ihre Kontrolle gebracht. Ähnlich äußerte sich die Beobachtungsstelle. Mit den Geländegewinnen seien nun die von den Rebellen kontrollierten Viertel Heluk und Haidarijeh bedroht. Aus Rebellenkreisen verlautete dagegen, in der Umgebung der Klinik tobten weiter Kämpfe. Nach Darstellung der Armee gelang auch die Einnahme einiger Gebäude in der Innenstadt.

Das Staatsfernsehen meldete, bei Raketenangriffen der Rebellen auf Viertel unter Regierungskontrolle seien 15 Zivilisten getötet und 40 weitere verletzt worden. Nach Angaben der Beobachtungsstelle starben zudem mindesten zwölf Menschen bei Luftangriffen auf die Rebellenviertel. Ein AFP-Reporter und die Beobachtungsstelle berichteten, die Luftangriffe konzentrierten sich am Freitag auf die Frontlinie, während sie sich in den Tagen zuvor vorwiegend gegen Wohngebiete gerichtet hätten.

Nachdem am 19. September eine von den USA und Russland vermittelte Feuerpause nach nur wenigen Tagen zerbrochen war, starteten die syrische und die russische Luftwaffe eine Offensive auf Aleppo, um die seit vier Jahren zwischen Regierung und Rebellen geteilte Großstadt vollständig unter ihre Kontrolle zu bringen. Durch die Angriffe spitzte sich die humanitäre Krise im seit Monaten belagerten Ostteil der Stadt weiter zu.

Überlegungen zu Truppenaufstockung

Sowohl Russland als auch die USA überlegen unterdessen offenbar eine Aufstockung ihrer im Bürgerkriegsland eingesetzten Kräfte. Die russische Zeitung "Iswestija" berichtete, Russland habe weitere Kampfjets auf den Stützpunkt Hmeimim verlegt. Wenn Bedarf bestehe, könnten innerhalb von zwei bis drei Tagen weitere Flugzeuge dorthin beordert werden, berichtete das Blatt unter Berufung auf einen namentlich nicht genannten Militärvertreter. Das Verteidigungsministerium in Moskau gab zunächst keine Stellungnahme ab.

In den USA wird angesichts der gescheiterten Friedensbemühungen und der Entzweiung mit Russland ein Kurswechsel erwogen. Obama habe Geheimdienste, Außen- und Verteidigungsministerium angewiesen, neue Optionen zu erarbeiten, sagte der stellvertretende Außenminister Antony Blinken vor Abgeordneten. Die Nachrichtenagentur Reuters hatte bereits in dieser Woche erfahren, dass die USA etwa eine bessere Ausrüstung der Rebellen durch Verbündete in der Region erwägen. (APA, 30.9.2016)