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Am Taksim-Platz in Istanbul erinnern Tafeln an beim Putschversuch getötete Soldaten. Die türkische Regierung will den Ausnahmezustand, der seither gilt, verlängern – womöglich auf ein Jahr.

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Ankara/Athen – Als der Staatschef den Ausnahmezustand über die Türkei verhängte, versuchten seine Minister noch, die Öffentlichkeit zu beruhigen. Die drei Monate, wie sie die türkische Verfassung festlegt, würden nicht ausgeschöpft, sagte der eine. In einem Monat vielleicht sei alles schon vorbei, erklärte der andere. Jeder möge nur seinen Alltagsgeschäften nachgehen. Doch Tayyip Erdoğan sieht das anders. Der autoritär regierende türkische Präsident scheint noch nicht bereit, die Sondervollmachten aus der Hand zu geben. "Vielleicht reichen auch zwölf Monate nicht", schleuderte er am Donnerstag in einer Rede seinen Kritikern im In- und Ausland entgegen.

Den nationalen Sicherheitsrat ließ Erdoğan am Mittwoch nach einer sechsstündigen Sitzung bereits eine weitere Verlängerung des im Juli verhängten Ausnahmezustands um drei Monate empfehlen. Auch dies lässt die türkische Verfassung zu. Danach aber ist der Präsident auf das Parlament angewiesen. Dort hatte Erdoğans mit absoluter Mehrheit regierende konservativ-islamische AKP im Verein mit den Rechtsnationalisten der MHP bereits dem Ausnahmezustand fünf Tage nach dem gescheiterten Putsch vom 15. Juli zugestimmt. Sozialdemokraten und die prokurdische Minderheitenpartei HDP lehnten damals ab. Zwingend ist die Zustimmung des Parlaments für die Verlängerung aber erst nach Ablauf von zwei Dreimonatsfristen – also ab 20. Jänner nächsten Jahres.

Der Kampf gegen die Terrororganisation der Gülen-Anhänger und die kurdische PKK müsse "noch wirksamer" fortgesetzt werden, erklärte Erdoğan am Donnerstag bei seiner Rede vor Ortsvorstehern aus einer Reihe türkischer Provinzen.

Erste Rede seit dem Putsch

Es war Erdoğans erste Rede vor den Muhtars seit dem Putsch. Die Ortsvorsteher sind das bevorzugte Publikum des Präsidenten, der sich viel darauf zugutehält, aus dem armen Istanbuler Viertel Kasimpasa den Weg nach ganz oben geschafft zu haben.

Mithilfe des Ausnahmezustands, der jahrelang immer wieder über mehrheitlich kurdische Provinzen im Südosten der Türkei verhängt wurde, aber seit dem erfolgreichen Putsch von 1980 nicht mehr über das gesamte Land, kann Erdoğan per Dekret regieren. Zudem werden bürgerliche Freiheiten eingeschränkt. Die Polizei kann Personen bis zu 30 Tage festhalten, ohne sie einem Haftrichter vorführen zu müssen. 70.000 Menschen wurden bisher im Zusammenhang mit angeblichen Putschplänen festgenommen. Gegen 32.000 wurde nach Angaben des von Justizminister Bekir Bozdag Haftbefehle erlassen.

Türkischen Medienberichten zufolge will die Regierung 174 neue Gefängnisse bauen. Der türkische Staat bereitet sich auf die mutmaßlich größten Massenprozesse in seiner Geschichte vor.

Verweis auf Frankreich

Erdoğan bügelte wie schon in der Vergangenheit Kritik am Ausnahmezustand mit dem Verweis auf Frankreich nieder. Dort gilt bereits seit den Terroranschlägen vom November 2015 der Ausnahmezustand. Die Türkei sei in der Geschichte immer unfair behandelt worden, erklärte Erdoğan seinen applaudierenden Zuhörern. Grimmig verwies der Staatschef dabei auf den Vertrag von Lausanne von 1923. Dieser gilt dabei aus türkischer Sicht als relative Verbesserung des Vertrags von Sèvres nach dem Ersten Weltkrieg. "Was für ein Sieg?", fragte Erdoğan nun und stellte plötzlich infrage, dass die Türkei ihren Anspruch auf die heute wieder zu Griechenland gehörenden Inseln des Dodekanes aufgegeben hatte.

Am Samstag tritt das Parlament nach der Sommerpause zusammen. Dann gibt es erstmals die Möglichkeit für die Abgeordneten, über Erdoğans Dekrete zu beraten und abzustimmen. An die 100.000 Türken verloren bisher als Putschverdächtige ihre Jobs. (Markus Bernath, 29.9.2016)