Zum Glück ist Laufen ja nicht so simpel wie Skifahren – sondern eine echte Wissenschaft. Darum lächeln Läufer nur sanft und verzeihend, wenn ich die Geschichte von einem meiner liebsten Bergführer auspacke: Während wir Gäste uns über Vorzüge und Nachteile von Rockern und Breite bei Freerideskiern bei der Abfahrt im Vergleich zu Gewicht von Ski und Bindung beim Aufstieg alterierten, saß der gute Mann schweigend da, sagte, als er schlafen ging nur "A Guada dafoads mit an jedem" – und zeigte uns am nächsten Tag mit einem Uralt-Pistenski mit Steinzeitbindung, wo Gott wohnt – beim Aufstieg wie im Powder. Auf Skiern mag das stimmen. Aber bei Laufschuhen? Sagen wir: Nein. Schon alleine, weil sonst die Existenzberechtigung einer ganzen Industrie infrage gestellt wäre …

Foto: Thomas Rottenberg

… aber auch, weil es da wirklich ein paar Gründe gibt, sich auf die Suche nach dem richtigen Schuh für den richtigen – da eigenen – Fuß mit all seinen Eigenheiten zu machen: Natürlich ist richtig, dass man viel von dem, was Laufschuhe an Fehlstellungen, falschen Bewegungsabläufen, durch Alltagsschuhe, zu wenig Bewegung und was sonst noch alles nicht gesund ist, korrigieren, abfangen oder kompensieren sollen, durch konsequentes Geh- und Lauftechniktraining, die täglich Turnstunde, Gymnastik und den Verzicht auf fußmordende Schuhe ersetzen könnte.

Aber in einer perfekten Welt gäbe es auch weit gravierendere und relevantere Missstände nicht. Und deshalb ist die Wahl des Schuhs eben doch nicht ganz wurscht.

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Natürlich kann man daraus dann auch eine Religion machen. Einen Kult. Aber: Na und? Es gibt vermutlich schlimmere Obsessionen als die Verzweiflung, die etliche meiner Lauf- und sonstigen Freunde erfasste, als ich im Juni an dieser Stelle davon erzählte, dass Brooks jenen Schuh aus dem Sortiment nehmen würde, den Hans Blutsch, der Grandseigneur der Wiener Laufschuhszene, für Läufer wie mich als "Universalwaffe" zu bezeichnen pflegte: Den Racer ST. Der ST5 würde das letzte Modell sein – und Blutsch sprach einer ganzen Schar von "Gläubigen" aus der Seele, als er erklärte: "Egal, was nachkommt, ich kann mir nicht vorstellen, dass dieser Schuh dann gleichwertig ist."

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Beim Hersteller war man nicht wirklich amused – und schickte mir das Nachfolgermodell. Den "Asteria": So wie der Vorgänger, ein (vergleichsweise) superleichter Langstrecken-Wettkampfschuh mit dem Mix, der auch den Racer ausgezeichnet hatte: "Dauerhafter Support und das schnelle, superleichte Tragegefühl eines Wettkampfschuhs". Sagt zumindest die Herstellerhomepage.

Als ich den Schuh das erste Mal getragen hatte, flatterte ein Mail von RunNa herein. RunNa bloggt auf der Seite von RunInc, dem Laufschuhspezialgeschäft von Michael Buchleitner. Im wirklichen Leben heißt sie Natascha Marakovits, ist Redakteurin beim Kurier, eine mehr als nur durchschnittliche Marathonläuferin und gute Freundin – und hat nebenbei gerade das zweite Mal den Berlinmarathon gefinished.

Ob ich den Asteria schon gelaufen sei, fragte RunNa – und als ich nur seufzte, kamen wir beide mit dem gleichen Urteil raus: Eh ein passabler und brauchbarer Schuh – aber nicht mit dem zu vergleichen, was wir auf der Langstrecke beide lieben: Den Racer ST.

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Ich sei, gestand ich der Kollegin allerdings nach dem Test, geradewegs zum Händler gelaufen: Blutsch hatte mir ja schon im Juni gesagt, dass er ein paar hundert Paar Racer im Keller lagere. Und ich hätte jetzt mal zwei auf Vorrat gekauft. Ob das sehr doof sei?

RunNa lachte – und schickte ebenfalls ein Bild: Unmittelbar nachdem ich im Juni das "Aus" verkündet hatte, habe sie bei einem Online-Shop zugeschlagen. Dreimal. Als sie ein paar Tage später ihre Vorräte noch einmal aufstocken wollte, sei aber alles weg gewesen. Nicht nur in ihrer Größe: "Da haben wohl noch ein paar Leute mehr zugeschlagen." Aber: Ja, wir sind Freaks.

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Neben Blutsch und RunInc gibt es in Wien noch einen dritten Laufschuhspezialisten, der diesen Namen verdient: In der Mall in Wien Mitte betreibt Michael Wernbacher den "WeMove Runningstore". Im Frühjahr, als meine nun halbwegs ausgeheilte Verletzung akut zu werden begann, bestellte er mich zu sich: "Versuchen wir mal, dir einen Schuh zu verpassen, mit dem du trotzdem laufen kannst." Wernbacher tat sein Bestes – aber manche Wehwehchen sind dann halt eine Nummer größer als es auch das netteste Pflaster reparieren könnte. Allerdings habe ich seither meinen ersten Saucony-Alltagslaufschuh daheim stehen: keine Ahnung wieso, aber dieses Label hatte sich bis dahin nie zu mir verirrt.

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Das könnte auch daran liegen, dass Österreich bei den Marketingdepartements der meisten Sportartikelmarken heute nur noch ein Wurmfortsatz südlich von Bayern ist. Ein kleiner, nicht wirklich relevanter Markt, den man halt mitnimmt – obwohl im Reporting dann vornehmlich die deutschen Zahlen aufscheinen: Ösiland ist irrelevant – außer man steigt den Labels aktiv auf die Zehen. Oder ein Händler weist Vertriebler regelmäßig darauf hin, dass Österreich anders tickt als Deutschland. Wenn das dem Vertriebmenschen dann lange genug auf die Nerven gegangen ist, redet er irgendwann einmal die PR- und Marketingleute an – und für eine kurze Zeit weiß man dann als Lauf-Schreiber in Österreich, wieso deutsche Kollegen mit weit weniger Reichweite oder Lesern nur genervt die Augen verdrehen, wenn wieder Hardware, Infomaterial oder Eventeinladungen in der Post sind.

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Saucony jedenfalls schickte mir in den vergangenen Woche gleich zwei Paar Testschuhe: Den "Ride 9 Reflex" und den Xodus ISO. Der eine ist ein speziell für die Herbst- und Winterzeit mit extravielen reflektierenden Nähten und Applikationen versehener Neutral-Laufschuh für Alltags- und Hobbyläufe auf (vornehmlich) Asphalt, der andere das aktuelle Modell des "Xodus", einem x-fach preisgekrönten Trail-Schuh. Schlau, denn sowohl Dämmerungs- und Herbstlaufen als auch Trail stehen im Herbst auf der Themenliste. Und weil die Leute von Saucony ihren Job nicht erst seit gestern machen, fragten sie mich vor dem Schicken natürlich nicht bloß nach meiner Schuhgröße, sondern nach meiner Laufschuhgröße. Optimalerweise nach jener Größenangabe, die in Schuhen mit ihrem Logo stünde: Dass jede Marke ein bisserl anders schneidet und nach anderen Leisten misst, weiß schließlich jeder, der mehr als drei paar Laufschuhe daheim stehen hat.

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Nur: Obwohl die Schuhe gleich groß waren, passten sie nicht. mehr noch: Obwohl mein grüner Saucony und der reflektierende Schuh aus der Ride-Serie stammen, war schon beim ersten Anprobieren klar, dass ich mit den Testschuhen keine Meter laufen können würde: Die neuen Patschen saßen wie Kletterschuhe. Da war kein Millimeter Spielraum. Und Laufschuhe brauchen Luft. In der Regel etwa einen Fingerbreit im Fersenbereich.

"Mysteriös" schreiben die Saucony-Leute. Ob ich meine anderen Schuhe denn schon so ausgelatscht hätte? oder ob mein Fuß sich verändert habe? Zweimal nein: Alle anderen Schuhe passen schließlich wie eh und je. Ich würde, schlug ich vor, mit den Schuhen einfach mal zum Experten gehen – zu dem, der mir den grünen "Ride" ja eigenhändig angepasst hatte: Michael Wernbacher.

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Wernbacher ließ mich die Schuhe anziehen – und stutzte: "Der ist genauso groß wie der alte – dir aber trotzdem eine halbe Nummer zu klein." Er drehte den Schuh um die eigene Achse. Sah mit seinem Kollegen hinein und lachte: "Und hier haben wir des Rätsels Lösung!" Der Händler hielt die Einlage in der Hand – und zeigte auf das Innenleben des Schuhs: Saucony hat zwar an Leisten, Schnitt und Model nichts verändert, aber in den neueren Schuhen der Ride-Serie eine neue Innensohle aus einem neuen Materialmix verbaut und allem Anschein nach hat die genau um jenes Eitzerl mehr Volumen, das dann den Unterschied zwischen "perfekt" und "unbrauchbar" macht.

"Sowas kommt immer wieder vor. Irgendeine marginale Änderung bei irgendeiner Komponente. Oder nur im Material, das da verarbeitet wird. Material taucht in den Produktbeschreibungen meist nicht einmal auf – die Marketingleute können es also gar nicht wissen. Und Händler und Kunden merken es erst, wenn man den Schuh anprobiert", erklärte der Händler – und widersprach nicht, als ich eine kleine Anmerkung machte: "Und wenn ich mir die Schuhe im Web kaufe, wundere ich mich, wieso sie nicht passen …"

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Der Vorteil des "echten" Ladens mit echter Beratung gilt dann eben auch bei nichtpassenden Testschuhen: Der Händler (das gilt für Blutsch und Buchleitner genauso wie für Wernbacher) lebt und stirbt mit der Zufriedenheit des Kunden – und weiß, dass es da eben auf Beratung und Service ankommt: "Ich tausch sie dir um. Das ist einfacher, als die Schuhe zurück zu schicken und zu warten, bis die aus dem Zentrallager in den Niederlanden vielleicht doch den richtigen kriegen: Den Reflex hab ich in Deiner Größe gerade bekommen – und der Xodus kommt hoffentlich auch bald. Ich kenne nur die alten Modelle – das ist ein wirklich geiler Schuh."

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Aber weil er mich schon da hatte, verpasste mir der Händler dann gleich noch einen Schuh: Einen Hoka One One. Genauer: Den Vanquish 2. "Den bist du noch nie gelaufen, oder?" Nö. Schon aus ästhetischen Gründen: Obwohl mir bei Laufschuhen der Look relativ egal ist, hatte ich um die (nachprüfbar) superleichten (angeblichen) Dämpfungswunder bisher einen weiten Bogen gemacht: Viel Dämpfung bedeutet nämlich in der Regel viel Sprengung (sinngemäß: der Höhenunterschied zwischen Ferse und Fußspitze im Schuh) – und das ist von dem, was ich als "natürliche" Laufbewegung empfinde, noch weiter weg, als ich von Dreadlocks: Ich laufe lieber wenig bis ungedämpft und versuche stattdessen auf die Technik zu achten. Gelingt nicht immer – aber manchmal eben doch.

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Außerdem sehen mir Hoka-Schuhe zu sehr nach Plateauschuhen aus. Doch genau das, referierte Wernbacher, sei ja der Clou an dieser Marke, die "eingefleischte Läufer zwar kennen, von der Otto Normalverbraucher aber noch nie was gehört hat – obwohl diese Schuhe genau für diese Zielgruppe ideal sind. Oder wären." Denn die Zwischensohle von Hoka One One-Schuhen biete angeblich zweieinhalb mal so viel Dämpfung wie ein herkömmlicher Laufschuh, gleichzeitig unterstütze die minimale Sprengung eine natürliche Laufbewegung – vom Aufsetzen der Ferse bis zum Abrollen der Zehe. Deshalb ja auch der Plateauschuh-Look. "Probier den Schuh einfach aus – und sag mir dann deine ehrliche Meinung." Die erste Runde – einmal in der Mall vor dem Shop rund ums Atrium – war unspektakulär: Weich. Sehr weich. Aber ok.

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Und sowohl der Augenschein als auch das Kontrollvideo bei ein paar Schritten über die kurzen Video-Teststrecke hinter dem Schuhregal ließen den Händler keine gravierenden Einsprüche gegen die Beziehung zwischen meinem Fuß und seinem Schuh finden: "Das passt soweit, renn einfach damit. Ob du dich damit wohl fühlst, ist nämlich wieder etwas anderes als die Frage, ob der Schuh aus fachlicher Sicht passt."

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Ich bin den Vanquish dann am Sonntag Probe gelaufen. Auf Asphalt, auf Waldwegen, auf dem Rindenmulch der Reitbahn neben der Hauptallee. Durch Gras und über weiche Böden. Und auch wenn ein einziger, nicht ganz 20 Kilometer langer, lockerer Lauf natürlich nicht genug ist, um ein endgültiges Urteil zu fällen, kann ich eines sagen: Der Schuh ist saubequem. Weich wie ein Moonboot – aber weder schwammig noch wabbelig. Die Lauf-, Auftritts- und Abrollbewegungen sind überraschend nahe an dem, was ich von meinen reduzierten, deutlich flacheren Schuhen gewohnt bin. Während ich bei "klassischen" Massenschuhen ab 15 Kilometern dann doch das Mehr an Material und Masse zu spüren beginne, ist beim Hoka das Mehr an Volumen eben nicht mit mehr Gewicht verbunden.

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Und dass ich bei neuen Schuhen – insbesondere solchen mit großen Zehenboxen – aufgrund meiner schiefen Zehen mit der Schnürung immer ein bisserl experimentieren muss, damit ich an den Zehenspitzen keine Scheuerstellen oder Blasen bekomme, ist auch vollkommen normal – und kein Manko des Schuhs: Vernünftigerweise tritt man einen neuen Schuh auch nicht beim ersten Mal gleich über die Beinahe-Halbmarathondistanz.

Ich diesmal schon. Denn ich wollte noch etwas wissen: "Viel Dämpfung" bedeutet nämlich auch, dass ein Schuh viel Energie "frisst". Über fünf oder zehn Kilometer spielt das bei lockerem Tempo keine Rolle.

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Aber danach eben schon. Auch wenn es angeblich Spitzensportler gibt, die mit dem Hoka One One Rennen laufen (und gute Resultate erzielen), ist das der Punkt, wo ich den Plateauschlapfen wieder ausziehe: Das Gefühl, da vor allem in den Schuh hinein zu laufen und verdammt viel Tempo und Kraft in der Dämpfung zu verlieren, wurde ich spätestens ab Kilometer zwölf nicht mehr los – und auch wenn ich selbst wahrlich kein schneller Läufer bin und weiß, dass gute Dämpfung bei vielen Läuferinnen und Läufern vermutlich wichtiger ist als ein paar Sekunden am Kilometer, ist mein subjektives Urteil klar: Für kurze Entspannungsläufe bleibt der Schuh bei mir im Rennen – aber bei allem, was zügig oder weiter als sieben Kilometer sein soll, steige ich dann lieber doch in andere Schuhe.

Obwohl mein Bergführer vermutlich an dieser Stelle lachend nur einen Satz sagen würde: "A Guada darennts mit an jedem." (Thomas Rottenberg, 28.9.2016)

Mehr Geschichten vom Laufen gibt es auf www.derrottenberg.com

Alle beschriebenen und gezeigten Schuhe wurden (mit Ausnahme der auf Vorrat gekauften Racer) zu Testzwecken zur Verfügung gestellt.

Foto: Thomas Rottenberg