Christian Kern lud zum Migrationsgipfel nach Wien.

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Wer zum Wiener Migrationsgipfel ein einfach greifbares Ergebnis, konkrete neue Maßnahmen zur Bewältigung der Asyl- und Wanderungskrise in Europa sucht, wird enttäuscht sein. Nichts von dem, was Bundeskanzler Christian Kern als Gastgeber oder seine deutsche Kollegin Angela Merkel am Ende als Resümee präsentierten, ist neu.

Dass es notwendig ist, mit nordafrikanischen Staaten ein Abkommen über Rückführung und humanitäre Hilfe wie mit der Türkei zu schließen, um die gefährlichen Überfahrten Hunderttausender durch Schlepper über das Mittelmeer einzudämmen, das haben bereits mehrere EU-Gipfel in Brüssel erkannt. Ähnliches gilt für die Absichten, die EU-Außengrenzen generell viel besser zu schützen und für Migranten in ihren Herkunftsländern mehr zu tun.

Und dass die Balkanroute für illegale Durchreise möglichst geschlossen bleiben soll, wurde im März in Brüssel eindeutig als Ziel der EU-28 festgelegt. Diesbezüglich hätte es diese "Gipfeltreffen Migration entlang der Balkanroute", wie das lange Arbeitsmittagessen von zehn Regierungschefs plus EU-Präsident plus EU-Migrationskommissar offiziell etwas sperrig hieß, nicht gebraucht.

Trotzdem markiert diese österreichische Initiative auf höchster politischer Ebene möglicherweise einen Wendepunkt in der EU-Politik zur Migration. Sie erinnert an die im Februar von Außenminister Sebastian Kurz und Innenministerin Johanna Mikl-Leitner organisierte Balkankonferenz auf Ministerebene in Wien, bei der die Sperre der Grenze in Mazedonien beschlossen wurde, was den Flüchtlingsstrom mit zum Erliegen brachte. Der Vorstoß Kerns könnte durchaus einen entscheidenden Beitrag dazu leisten, die Lähmung zwischen EU-Institutionen und Mitgliedsstaaten einerseits, aber auch die tiefen Gegensätze zwischen den EU-Ländern andererseits in diesen Fragen zu lockern. Wenn weitere Balkanstaaten – von Serbien bis Albanien, allesamt EU-Beitrittskandidaten – dabei waren, ist es umso besser.

Denn eines muss man sich ein Jahr nach der unerwarteten Dynamisierung der Migrationskrise immer wieder vor Augen halten: als Union, als Gemeinschaft sind die EU-Staaten am Problem bisher gescheitert. Die EU-Kommission hat als Zentralbehörde jede Menge vernünftige Vorschläge gemacht, wie man Flüchtlingen helfen kann, und wie den Staaten. Aber fast alle Appelle zu Solidarität sind bisher nur schwach umgesetzt worden. Beim EU-Gipfel in Bratislava vor einer Woche trat diese tiefe innere Zerstrittenheit subtil, aber doch wieder einmal erschreckend zutage.

Man muss also fast davon ausgehen, dass die gemeinschaftlichen Institutionen, Kommission und das Parlament in Straßburg, daran auf absehbare Zeit wenig ändern können. Viele Staaten halten vehement dagegen, voran Polen und Ungarn, aber auch EU-Größen wie Frankreich sind eher ignorant. Derweilen blüht quer durch Europa der rechte Populismus auf, der auf Spaltung, auf Auflösung, auf das Scheitern der EU setzt.

An diesem Punkt versucht der österreichische Kanzler offenbar anzusetzen, und es mag auf den ersten Blick wie ein paradoxes Vorgehen erscheinen: Er lud alle meistbetroffenen Länder an einen Tisch, und vor allem genau die, die untereinander in Sachen Migration am meisten auseinander liegen. Dass die deutsche Kanzlerin Merkel den Weg nach Wien antrat, ist dafür ein starkes Indiz. Noch vor vier Monaten hatte sie die "Balkanaktivitäten" der Österreicher im Duett mit der EU-Kommission öffentlich abgelehnt, hatte Kern-Vorgänger Werner Faymann und Kurz auch wegen der Asylobergrenzen quasi uneuropäische Umtriebe vorgehalten.

Jetzt sitzt Merkel mit am Tisch mit der Balkantruppe, ebenso wie Viktor Orban, dem derzeit wohl schwierigsten Regierungschef, der nicht nur die Laissez-faire-Methode Merkels bei Flüchtlingen zutiefst ablehnt, sondern auch mit der österreichischen Regierung über Kreuz war.

An Orban konnte man in Wien ablesen, was so eine Initiative einer Gruppe von Nationalstaaten bringen könnte, wenn es im Kollektiv der 28 und der Kommission hakt: Plötzlich redete sogar der ungarische Premier von der dringenden Notwendigkeit eines gemeinsamen europäischen Handelns, mit überraschend konstruktiven Tönen (auch wenn er von seiner harten "Verteidigungslinienpolitik" gegen Migranten zunächst keinen Milimeter nachzugeben scheint). Aber: Es ergeben sich neue Gesprächsmöglichkeiten, neue Varianten der grenzüberschreitenden Kooperation, Fallbeispiele von wechselseitiger Unterstützung, die im großen Rahmen der EU-Ministerräte offenbar nicht möglich sind. Auf diesem Umweg kommt man vielleicht wieder zur gemeinschaftlichen Politik zurück.

Die Union hat immer dann am besten funktioniert, wenn Nationalstaaten und EU-Ebene nicht gegeneinander ausgespielt werden, wenn es gelingt, ein Gleichgewicht zwischen selbstbewussten Mitgliedstaaten und den Institutionen herzustellen. Daran hat es zuletzt sehr gemangelt – nicht zuletzt, weil die Kommission glaubte über Staaten "drüberfahren" zu können, und weil die "Großmächte" Deutschland und Frankreich die Kooperation mit den vielen kleinen Staaten vernachlässigen.

Wenn es gelingt, dazu einen neuen Dreh zu finden, wenn das kommende Arbeitsjahr wieder zur konstruktiven Annäherung der EU-Länder führt, nach einem Jahr des unübersehbaren Auseinanderdriftens in Sachen Migration, dann hat sich der informelle Gipfel ausgezahlt. Schade ist, dass Kommissionschef Jean-Claude Juncker nicht gekommen ist: er hätte vielleicht da und dort neue Ansätze finden können.

Noch mehr ist es schade, dass Kanzler Kern seinen Außenminister Sebastian Kurz nicht dazu gebeten hat. Es täte Österreich nach Jahren provinzieller großkoalitionärer Stichelei zumindest auf dem Feld der Europapolitik gut, wenn die Regierungsspitzen das Gegensätzliche beiseiteschieben und nach außen eine gemeinsame österreichische Haltung pflegen. Das gilt umso mehr, als der Kanzler mit seiner Einladung ohne jeden Zweifel gezeigt hat, was er anstrebt: eine sehr offensive Rolle in der europäischen Politik. (Thomas Mayer, 24.9.2016)