Gemütlichkeit trifft Exotik: Erna Schilling und Ernst Ludwig Kirchnerim Atelier Berlin-Wilmersdorf, um 1912/1914.

Foto: Kirchner Museum, Davos

Wien – Gegen Ende des 19. Jahrhunderts kannten die meisten Europäer Afrika vor allem aus der eigenen Fantasie. Befeuert wurde sie von allerhand Andeutungen, die der Kolonialismus laufend heranspülte. In den Metropolen boomten Völkerschauen, in denen sich die Zivilisierten "Wilde" vorführen ließen. Man las Joseph Conrads Erzählung Herz der Finsternis (1899), verfasst nach einer Reise des Briten in den Belgisch-Kongo.

In den Völkerkundemuseen häuften sich indes seltsame Objekte aus außereuropäischen Kulturen, die oft Kolonialbeamte mitgebracht hatten: geschnitzte Ritualstöcke, Masken, Talismane, Götterstatuen, Waffen, Mobiliar etc. Nicht zuletzt westliche Künstler waren es, die sich von diesen Exotika unwiderstehlich angezogen fühlten. Man bestaunte die nie gesehene Formensprache, vermeinte, eine besondere Unmittelbarkeit oder – eurozentristischerweise – sogar eine außergewöhnliche "Expression" zu erblicken.

Viele Künstler sahen in der Kunst dieser "Wilden" einmal mehr eine Chance, die Kindheit der Zivilisation insgesamt wiederzugewinnen: die in der Moderne verlorene Verbindung zur Natur, das vorwissenschaftliche, "magische" Denken. Die Strömung des "Primitivismus", die sich im frühen 20. Jahrhundert auf die intensive Auseinandersetzung mit der Kunst von Naturvölkern bezog, lief vielfach darauf hinaus, die Aufklärung zu hintertreiben.

In diese spannende Episode der Geschichte führt nun eine Ausstellung im Wiener Leopold-Museum: Unter dem Titel Fremde Götter – Faszination Afrika und Ozeanien lässt man dort Positionen der klassischen Moderne mit Sakral- und Ritualgegenständen in "Dialog" treten. Letztere sind dabei eigentlicher Anlass der Schau: Ganze Räume sind jener Kollektion außereuropäischer Kunst gewidmet, die Rudolf Leopold ab den 1960er-Jahren anlegte. Seit 2013 werden diese Bestände unter der Leitung von Erwin Melchardt, Experte für außereuropäische Kunst am Wiener Dorotheum, systematisch aufgearbeitet, nun setzt man erstmals einen Schwerpunkt.

Ahnenfiguren, Masken oder Waffen erwarten Besucher in jenen Räumen der Schau (kuratiert von Melchardt und Ivan Ristić), die ausschließlich afrikanischer oder ozeanischer Kunst gewidmet sind. Stühle der Aschanti sind zu sehen, die bei Nichtbenutzung an die Wand gelehnt werden, damit sich keine bösen Geister darauf setzen; oder Masken, die die Männer der Bamara bei Übergangsriten tragen. Wer genau schaut, kann unter den insgesamt rund 250 Objekten aber auch die Nachbildung eines Kolonialbeamten-Kopfes mit klappbarem Kiefer entdecken, die nigerianische Ogon zu verballhornenden Zwecken anfertigten. So faszinierend indes einzelne Objekte sind: Schade ist, dass sie mitunter allzu dicht gedrängt erscheinen, man den Willen, möglichst viel unterzubringen, doch zu spüren meint.

Erweckung im Museum

Luftiger präsentieren sich die Abschnitte zum "Primitivismus" westlicher Künstler. Zu sehen sind hier etwa Möbel des Brückemalers Ernst Ludwig Kirchner: Im Sinne der Lebensreformbewegungen des frühen 20. Jahrhunderts entwarf Kirchner figurenverzierte Stühle, die gewissermaßen den Geist der Naturvölker ins westliche Wohnzimmer bringen sollten. Emil Noldes Gemälde Mann, Fisch, Frau (1912) ist einem Zwillingsfiguren-Ensemble der westafrikanischen Yoruba gegenübergestellt, von dem es inspiriert sein könnte. Vertreten ist – etwa mit Kopfstudien – aber freilich auch Picasso, der sein primitivistisches Erweckungserlebnis in einem Pariser Völkerkundemuseum erlebt haben soll: Schockartig will er, dem Mythos nach, die ausgestellten Masken als "magische Objekte" erkannt haben.

Trefflich ist schließlich die Entscheidung der Kuratoren, Kader Attias Videoarbeit Reason’s Oxymorons in die Schau zu integrieren: Der Künstler interviewte Wissenschafter, Künstler, Psychotherapeuten zu Fragen des magischen Denkens, zu ihrer (postkolonialen) Auffassung hinsichtlich unerklärlichen Heilerfolgen oder der Wirksamkeit von Therapien – aber auch zu den Missverständnissen zwischen den Kulturen. (Roman Gerold, 23.9.2016)