Kathrin Sevecke (44), stammt aus Nordrhein-Westfalen in Deutschland und hat seit November 2013 den Lehrstuhl für Kinder- und Jugendpsychiatrie an der Medizinischen Universität Innsbruck inne. Sevecke hat in Bonn Medizin studiert und die Lehrbefugnis für Kinder- und Jugendpsychiatrie sowie -psychotherapie.

Foto: Schafgans

Hält die Hirnzellen in Dauerschach: Abschalten können kann zu einem Problem werden.

Foto: iStockphoto

STANDARD: Geht es Kindern und Jugendlichen heute psychisch schlechter als vor 30 Jahren?

Sevecke: Ja, das kann man so sagen, und das hat soziokulturelle Gründe. Die Familienstruktur hat sich verändert, von der Groß- zur Kleinfamilie. Das bedeutet eine höhere Belastung der Eltern durch Berufstätigkeit. Zugleich weiß man heute, dass Kinder aus sozial benachteiligten Familien ein höheres Risiko haben, psychisch zu erkranken. Auch der wachsende Einfluss sozialer Medien ist ein Faktor. Und letztlich sind auch die Erwachsenen häufiger psychisch krank, was sich auf ihre Erziehungsfähigkeit auswirken kann.

STANDARD: Welche neuen Erkenntnisse zu stoffgebundenen Süchten bei Jugendlichen werden bei der Tagung in Innsbruck beleuchtet?

Sevecke: Wir wissen zum Beispiel, dass der schädliche Einfluss von Cannabis auf das Gehirn Heranwachsender viel größer ist als bisher angenommen. Das heißt: Je früher Jugendliche mit dem Konsum beginnen, desto eher greift das in die sensible Phase ihrer Gehirnreifung ein. Es ist also ein großer Unterschied, ob ein Erwachsener, bei dem das Gehirn ausgereift ist, konsumiert oder ein Adoleszent, bei dem hirnstruktureller Umbau stattfindet. Der Beginn und die Intensität des Konsums sind somit entscheidend. Dazu wird eine Kollegin ein neues Cannabis-Entzugsprogramm vorstellen.

STANDARD: Was sind die häufigsten nichtstoffgebundenen Süchte unter Jugendlichen, und sind diese mit Drogen zu vergleichen?

Sevecke: Von der Symptomatik ja. Denn Abhängigkeit ist per Defi nition der starke, übermächtige Wunsch, etwas zu konsumieren. Und das trifft eben auf das Internet oder Computerspiele genauso zu wie auf herkömmliche Drogen. Wir haben auf der Station zum Beispiel oft extreme Schwierigkeiten, dass sich die Jugendlichen an die Handyzeiten halten. Da gibt es mitunter körperliche Auseinandersetzungen, weil sich Jugendliche derart dagegen wehren, ihr Handy über Nacht abzugeben.

STANDARD: Ab wann ist ein Smartphone für Kinder zu empfehlen?

Sevecke: Ich selber muss mich immer wieder dafür rechtfertigen, dass meine Tochter in der ersten Klasse Volksschule noch kein Handy hat. Für mich persönlich wäre die weiterführende Schule, also mit ungefähr elf Jahren, ein guter Zeitpunkt. Das muss jede Familie individuell entscheiden. Aber ich finde es sehr wichtig, dass Kinder den richtigen Umgang mit diesen Medien lernen. Die Eltern sollten dabei als Vorbild dienen und auch genau hinschauen. Denn aus Studien wissen wir, dass zwei Drittel aller Eltern gar keine Ahnung haben, wo im Internet ihre Kinder surfen.

STANDARD: Welche nichtstoffgebundenen Süchte gibt es abseits des Internets bei Jugendlichen?

Sevecke: Wir haben es immer öfter mit Spielsucht zu tun. Sowohl Spielautomaten als auch Wettbüros sind hier für Jugendliche gefährlich. Auch Sportsucht wird immer mehr zum Thema. Also übertrieben regelmäßige Besuche im Fitnessstudio, oftmals verbunden mit geradezu ritualhafter Einnahme von Nahrungsergänzungsmitteln zum Muskelaufbau. Eher selten ist die Kaufsucht, aber auch das hatten wir schon.

STANDARD: Wie können Eltern rechtzeitig erkennen, ob ihr Kind süchtig ist?

Sevecke: Neun von zehn Jugendlichen bekommen den Umgang mit Handy und Internet sehr gut hin. Ein Alarmzeichen muss sein, wenn es Funktionseinschränkungen gibt, also wenn das Suchtverhalten eine psychische Problematik kaschiert. Das kann zum Beispiel die Angst sein, das Haus zu verlassen, da hilft Computerspielen gegen die Angst. Auch Cannabiskonsum gegen Schlaflosigkeit ist ein Alarmzeichen. Die Kombination von Sucht plus psychischer Erkrankung ist häufig. Eltern sollten ihre Bedenken offen ansprechen, ohne Vertrauen zu ihren Kindern zu zerstören. Und sie sollten sich Hilfe holen. Denn hier sollten wir als Kinder- und Jugendpsychiater wachsam sein.

STANDARD: Wie sieht es mit der medizinischen Versorgung in Sachen Kinder- und Jugendpsychiatrie in Österreich aus?

Sevecke: Man muss dabei zwischen stationärer und ambulanter kinder- und jugendpsychiatrischer Versorgung unterscheiden. In Österreich gibt es kaum tagesklinische Angebote, bei denen die Jugendlichen morgens zur Behandlung kommen und abends wieder nach Hause gehen. Und auch die Kassenstellen sind sehr rar gesät. In Tirol haben wir beispielsweise nur zwei, die beide in Innsbruck sind. Aber auch stationäre Plätze fehlen österreichweit. Das ist ein Problem, zumal wir wissen, dass die Anzahl derer, die Behandlung brauchen, in den kommenden Jahren weiter steigen wird.

STANDARD: Ist Tirol in dieser Hinsicht besser aufgestellt?

Sevecke: Noch nicht, aber die Aussicht ist gut. Wir werden Ende 2017 nach Hall in Tirol übersiedeln und dann mit insgesamt 48 Betten mehr als doppelt so viele Plätze zur Verfügung haben wie jetzt. Wir werden dann sowohl in Innsbruck wie auch in Hall eine tagesklinische Einheit zur Verfügung haben. Das ermöglicht ein modernes Behandlungskonzept, bei dem wir zwischen stationär und teilstationär oder ambulant wechseln können. (Steffen Arora, 24.9.2016)