Drei Monate nach dem Austrittsvotum tappen britische Bürger und Unternehmen über die Folgen des Brexit weitgehend im Dunkeln. Das Resultat der Volksabstimmung habe "bisher keine erhebliche Wirkung" auf die Volkswirtschaft gehabt, hieß es am Mittwoch bei der Nationalen Statistikbehörde ONS. Ganz anders die OECD, die weiterhin ein starkes Abbremsen der Konjunktur auf ein Prozent Wachstum 2017 prognostiziert. Im Vorjahr lag der Wert noch bei 2,2 Prozent.

Welche Folgen der Brexit unabdingbar haben müsse, ließ der konservative Milliardär und Demoskop Michael Ashcroft die Briten Mitte August fragen. 79 Prozent hielten eine Einschränkung der Personenfreizügigkeit für unverzichtbar; damit bestätigt sich der weitverbreitete Eindruck, das Abstimmungsergebnis vom 23. Juni (51,9 Prozent für den Austritt) sei vor allem ein Votum gegen weitere Einwanderung gewesen. Nur 39 Prozent pochen auf einen Austritt aus dem Binnenmarkt.

Allerdings verdeutlicht die Antwort auf eine weitere Frage die anhaltende Ignoranz der Briten gegenüber europäischer Realität: 81 Prozent sehen den Brexit gleichbedeutend mit dem totalen Stopp aller Zahlungen in die Gemeinschaftskasse.

"Brexit sorgt für Kopfzerbrechen"

Das Pfund hat sich nach starken Ausschlägen mittlerweile auf einem Kursverlust gegenüber Dollar, Euro und Yen von rund zehn Prozent eingependelt. In der City of London, dem wichtigsten internationalen Finanzplatz der Welt, haben Experten für Europarecht, Steuerfragen und Immobilien in der Eurozone Hochkonjunktur. Er kenne "keine gute Firma", die nicht längst Standorte außerhalb Großbritanniens abklopft, vertraute Robert Kapito vom Vermögensverwalter BlackRock der BBC an. "Brexit verursacht der Branche viel Kopfzerbrechen."

Für Banken, Versicherungen und Vermögensverwalter geht es vor allem um die Frage, ob sie weiterhin reibungslos in anderen EU-Ländern Geschäfte machen können. Dies wird bisher durch das "Passporting" im Rahmen des Binnenmarkts ermöglicht. 5476 Unternehmen in der City mit 336.421 grenzüberschreitenden Lizenzen würden Verluste erleiden, träte diese Regelung außer Kraft, errechnete die Finanzaufsichtsbehörde FCA. Umgekehrt wären 8008 kontinentaleuropäische Firmen mit 23.532 Lizenzen vom schwierigeren Zugang zum britischen Markt betroffen.

Positive Konsequenzen

Der Leiter des neu gegründeten Brexit-Ministeriums (DExEU), David Davis, redet gern von "neuen Freiheiten, neuen Möglichkeiten und neuen Horizonten für unsere Nation". Dementsprechend drängen seine mittlerweile mehr als 300 Beamten die Kollegen anderer Ressorts dazu, ihren eigenen Ministern die Brexit-Konsequenzen möglichst positiv zu präsentieren. "Schwarz wird zu hellgrau erklärt", seufzt ein Insider – selbst eindeutige Nachteile des Austritts werden in regierungsinternen Papieren nicht mehr klar benannt.

Drei Monate nach dem Brexit-Votum, gut zwei Monate nach dem Regierungswechsel bleibt das britische Verhältnis zu Europa weiterhin völlig unklar. Dementsprechend seien Prognosen "ungewöhnlich ungewiss", teilte die OECD mit. (Sebastian Borger aus London, 22.9.2016)