Julius Tandler, renommierter Anatom und auch eugenischer Sozialtechnologe.

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Julius Tandler bei einer Anatomievorlesung an der Uni Wien.

Foto: Josephinum, MedUni Wien

Kinder beim Zahnputzunterricht in einer der Kinderübernahmestellen der Stadt Wien: Tandlers gesundheitspolitische Reformen standen in engem Zusammenhang mit seiner Tätigkeit als Anatom und seinem Glauben an die Vererbung erworbener Eigenschaften.

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Ein weiterer Baustein der "totalen Fürsorge": Die Heilstätte "Bellevue" für leicht lungenkranke Wienerinnen.

Foto: Waschsalon Karl-Marx-Hof

Wien – Sätze wie den folgenden wird Julius Tandler nie mehr loswerden. Im Jahr 1924 etwa schreibt er: "Gewiss, es sind ethische, es sind humanitäre oder fälschlich humanitäre Gründe, welche dagegen sprechen, aber schließlich und endlich wird auch die Idee, dass man lebensunwertes Leben opfern müsse, um lebenswertes zu erhalten, immer mehr und mehr ins Volksbewusstsein dringen."

Diese oft zitierte Formulierung findet sich in Tandlers Text Ehe und Bevölkerungspolitik, der den international renommierten Anatomen und Wiener Gesundheitsstadtrat als Anhänger der Eugenik auswies, also einer Bevölkerungs- und Gesundheitspolitik, die das Ziel verfolgt, die Gesellschaft biologisch zu verbessern: Der Anteil guter Erbanlagen soll vergrößert, jener schlechter Erbanlagen verringert werden.

Tandlers Verhältnis zur Eugenik ist nicht weniger als ein Drittel der neuen Ausstellung Julius Tandler oder: Der Traum vom "neuen Menschen" gewidmet, die ab sofort im Waschsalon im Karl-Marx-Hof gezeigt wird. Für Werner Bauer, der die Schau gemeinsam mit Lilli Bauer gestaltete, war das quasi eine Notwendigkeit: "Wir wollten dieses Thema frontal ansprechen. Das ist der einzige Weg, damit umzugehen."

Nötige Kontextualisierungen

Ihre klug und etwas textlastig aufbereiteten Rechercheergebnisse helfen jedenfalls bei den nötigen Kontextualisierungen und Differenzierungen: Ab dem Ende des 19. Jahrhunderts waren etliche renommierte Forscher und Intellektuelle jeder politischen Couleur Anhänger eugenischer Maßnahmen. Sterilisierungen, die als Mittel zum Zweck galten, wurden damals längst in einigen US-Bundesstaaten und wenig später dann auch in Skandinavien oder in der Schweiz – und eben nicht nur in Nazideutschland – praktiziert.

Es gibt aber auch wichtige Unterschiede zwischen verschiedenen eugenischen Konzepten: Während die negative Eugenik auf das Ausschalten "schlechter Erbanlagen" setzte, was zur Rassenhygiene der Nazis führte, vertrauten "produktive" und sozialistische Eugeniker wie letztlich auch Tandler eher auf günstige Umweltbedingungen, auf Bildung oder Eheberatung, um zum "neuen Menschen" zu gelangen.

Dem entsprechen auch einige Tandler-Zitate, die in der Rahmen-Ausstellung zum Roten Wien nicht fehlen: "Wer Kindern Paläste baut, reißt Kerkermauern nieder." Oder: "Wer Sportplätze baut, hilft Spitäler sparen."

Übersehene Zusammenhänge

Dabei gibt es bei Tandler auch oft übersehene Zusammenhänge zwischen seinen wissenschaftlichen Arbeiten vor dem Ersten Weltkrieg und seinem gesundheitspolitischen Wirken im Roten Wien danach, wie die Medizinhistorikerin Tatjana Buklijas (Uni Auckland) kürzlich bei der 2. Max Neuburger Lecture im Josephinum betonte: Tandler hing wie viele seiner Kollegen in Wien der Vererbung erworbener Eigenschaften an. Das bedeutete, dass sich positive Maßnahmen positiv auf die nächsten Generationen auswirken würden.

Kuratorin Lilli Bauer gibt noch zu bedenken, dass Tandlers verstörendste Zitate zur Eugenik noch im gleichen Text relativiert würden, indem er die persönliche Freiheit zur entscheidenden Instanz für die Einschätzung des Werts des eigenen Lebens erklärt. "Außerdem sollte man ihn zuerst an seinen Taten messen."

Das gelingt der Ausstellung zum Teil auch mit neuem Bildmaterial aus Sanatorien ebenso wie Kinderübernahme- oder Eheberatungsstellen. Die Schau gibt auf diese Weise bekannte und unbekannte Einblicke in viele der Gesundheitsreformen des für Werner Bauer "eher rechten Sozialdemokraten" Tandler. Die Maßnahmen reichten dabei buchstäblich von der Zeit vor der Zeugung bis nach dem Tod und bildeten eine "geschlossene Fürsorge".

Rotes Tuch für Antisemiten

Der erste Teil der kleinen, aber feinen Ausstellung, die neben zwanzig Tafeln auch etliche Originalbriefe Tandlers zeigt, ist dem Wissenschafter Tandler gewidmet, der 1910 die 1. Anatomische Lehrkanzel übernahm und nach dem Ersten Weltkrieg wegen seiner jüdischen Herkunft zum roten Tuch für antisemitische Studenten wurde, die sein Institut mit zunehmender Gewalttätigkeit bis 1933 regelmäßig überfielen.

Frustriert von diesen Attacken begab sich Tandler nach China. Bei seiner Rückkehr unmittelbar nach den Februar-Ereignissen des Jahres 1934 wurde er verhaftet, nach internationalen Protesten wieder freigelassen und verlor seine Professur. Der Tod ereilte Tandler Ende August 1936 – und zwar nicht in "seinem" Roten Wien, sondern in Moskau, wo er zuletzt noch als Konsulent für Spitalsbauten und Medizinerausbildung wirkte. (Klaus Taschwer, 21.9.2016)