Von der etwas antiquierten Schreibweise einmal abgesehen, könnte die folgende Passage aus einer Presseaussendung von Reinhold Lopatka stammen: "Lässt man Arme faullenzen, so verdienen sie nichts. Die Arbeitsamkeit sollte überall bey den Armen betrieben werden". Der Text stammt aus einer Schrift des bayrischen Geistlichen Johann Kaspar, die um 1798 entstand. Es sei doch "nicht hübsch", schreibt Kaspar, "dass man sie haufenweise lieber betteln als arbeiten lässt".

Um 1800 bekennt sich der Staat zwar zu seiner Verpflichtung, für Arme zu sorgen, er beschränkt diese aber rigoros auf jene, die nicht fähig sind zu arbeiten. Dem gehen Jahrhunderte der Armenschelte voraus. Armen, "die nicht Krüppel, lahm oder blind sind", wird bereits in der Nürnberger Bettelordnung von 1478 das Betteln verboten. In Salzburg wurden Bettler mit der Aufschrift "Bestrafter Bettler zur Genugthuung für das Amt und das Publikum" vor dem Polizeihaus aufgestellt. "Was sie verdienen, verfressen und versaufen sie", heißt es 1510 im Liber Vagatorum. Bis 1800 müssen Bettler mit Brandmarkung und Körperstrafen rechnen. Das Pflegegericht Zell am See drohte sogar ertappten Spendern Strafen bis zu drei Gulden an.

Christlich ist diese Armenschelte nicht. "Selig die Armen", spricht Jesus es im Evangelium des Lukas aus, "ihrer ist das Himmelreich." In der Vita des heiligen Eligius heißt es: "Gott hätte alle Menschen reich erschaffen können, aber er wollte, dass es auf dieser Welt Arme gibt, damit die Reichen Gelegenheit erhalten, sich von ihren Sünden freizukaufen". Almosen als "Himmelsleiter" für die Reichen, als Abkürzung der Qualen im Fegefeuer. "Wenn der Taler im Beutel klingt, die Seele sich in den Himmel schwingt", stand auf dem Sammelkasten des Ablasspredigers Tetzel zu lesen. Arme und Bettler wurden so über das gesamte Mittelalter nicht verachtet, sie gehörten zum normalen Alltag und waren willkommen.

Bevölkerungswachstum, Pest und Kriege bewirkten ab dem 15. Jahrhundert, dass die freiwillige Armenhilfe nicht mehr reichte. Zunächst versuchte die Staatsgewalt die Zahl der Armen durch Arbeitszwang und rigide Kontrolle klein zu halten. Mit der Verelendung Tausender im Zuge der Industrialisierung war diese restriktive Armenfürsorge aber nicht mehr zu halten. Im Jahr 1871 trafen in Bad Gastein der deutsche Reichskanzler und der österreichische Außenminister zusammen. Was dabei im verklausulierten Beamtendeutsch zu Protokoll gegeben wurde, war eine grundlegende Wendung in der Sozialpolitik. Bis dahin hatten die Regierungen die seit Mitte des 19. Jahrhunderts sich mehrenden Aufstände brutal niedergeschlagen. Nun aber steht zu lesen: "Fürst Bismarck und Graf Beust begegneten sich in dem Entschlusse", die Mittel gegen die Gefahr sozialer Unruhen "nicht allein in der Hervorkehrung des polizeilichen Standpunkts" zu suchen, sondern "die Frage vom höheren Standpunkt der staatlichen Fürsorge zu beurteilen". Beinahe im Jahrestakt wurden in Österreich die Grundlagen des Sozialstaates geschaffen – das Unfallversicherungsgesetz, das Krankenversicherungsgesetz, sowie mit erheblicher Verzögerung die Pensionsversicherung und das Arbeitslosengesetz.

Für die gegenwärtigen Probleme, so scheint es, wäre aus der Geschichte einiges zu lernen. Fürs Erste: Die Bindung sozialer Hilfe an die Arbeitspflicht ist nicht zwingend. Sie ist es vor allem dann nicht, wenn Arbeit nicht für alle in gleichem Maß zur Verfügung steht, vor allem nicht für die Ärmsten. Als minimalster Grundsatz hätte zu gelten, dass der Staat seine Bürger nur in dem Maß zur Arbeit verpflichten darf, als Wirtschaft und öffentliche Hand diese Arbeitsmöglichkeit auch zur Verfügung stellen.

Zum Zweiten: Soziale Probleme können nicht durch Beschuldigung von Einzelpersonen oder sozialen Gruppen – © Lopatka: "Es fehlt Flüchtlingen an Bereitschaft, Arbeit anzunehmen, da müssen wir den Druck erhöhen" – gelöst werden, sondern durch eine Politik, die den Sozialstaat nicht schwächt, sondern stärkt.

Zum Dritten: Soziale Hilfe muss, und auch darin ist der gängigen Kürzungsrhetorik zu widersprechen, unabhängig davon erfolgen, wie viel oder wie wenig jemand in das soziale System eingezahlt hat. Soziale Not ist kein Zustand, den jemand bewusst geplant oder herbeigeführt hat. Sie kann deshalb auch nicht, wie eine neue soziale Knausrigkeit verlangt, von den Notleidenden vorfinanziert werden.

Vor allem: Soziale Hilfe bedarf zu ihrer Akzeptanz einer breiten Plausibilität und Unterstützung. Mit der Säkularisierung hat die jenseitige Begründung der Barmherzigkeit ihre motivierende Kraft eingebüßt, und es hat sich bislang keine diesseitige Mentalität der Fürsorglichkeit herausgebildet, die in pluralistischen Gesellschaften breite Zustimmung findet. Die Geschichte scheint zu zeigen, dass Altruismus gesellschaftsfähiger ist, wenn er ein Moment von gesundem Egoismus enthält. Um 1800 argumentierte der Salzburger Philosophieprofessor Augustin Schelle, dem Menschen sei ein natürliches Bedürfnis eingepflanzt, das Gute, das ihm widerfährt, zu teilen. "Der weise Schöpfer" habe sich "der Selbstliebe bedient, uns auch das Wohl anderer Menschen interessant zu machen". Oder wie Caritas-Präsident Michael Landau formuliert: "Der Schlüssel für ein geglücktes Leben liegt darin, sich nicht nur um das eigene Glück, sondern auch um das Glück der anderen zu sorgen. Zu hören und zu schauen, wo wir als Menschen gefragt sind, heute und hier". (Bernhard Rathmayr, 20.9.2016)