Ohne Selberlaufen ging es in Schweden natürlich doch nicht. Und auch wenn mein Gerenne nicht einmal ansatzweise irgendetwas mit dem zu tun hatte, was ich zwei Tage darauf beim Ötillö sehen sollte und worüber ich vergangene Woche hier ein bisserl was erzählt habe, war es doch schön – und subjektiv wichtig: Einfach nur auf einem Presseticket zu einem Sportevent in eine meiner Lieblingsstädte in einer meiner Lieblingsgegenden zu fliegen und dann genau gar nix zu machen, wäre schlicht und einfach nicht gegangen. Nicht, wenn man mir nicht beide Beine eingipst oder mir sonst wie das Laufen komplett unmöglich macht.

Foto: Thomas Rottenberg

Darüber, dass genau das in den vergangenen Wochen und Monaten vor dem Trip in den Norden ziemlich genau der Fall war, habe ich hier ja schon ausführlich gejammert und lamentiert. Aber das ist vorbei. Und auch wenn ich da viel Zeit und viele Möglichkeiten, Spaß zu haben, liegen gelassen habe: Die Lektionen aus so einer Zwangspause … aber egal. Darum geht es hier heute nämlich nicht.

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Eigentlich hätte ich ja gerne eine Laufrunde durch Stockholm gedreht: Siterunning eben. Das dürfte in Stockholm ziemlich gut gehen – und zwar nicht bloß auf eigene Faust: Die ziemlich lustigen, aber noch viel professionelleren Pressemenschen des schwedischen Tourismusverbands hatten mich vor dem Trip jedenfalls mit Routen, Guides und Links zu geführten Stadtläufen geradezu überschüttet.

Nur: Blöderweise übernachteten wir, bevor es zum Swim-Run-Event im Schärengürtel ging, halt nicht in Stockholm, sondern in Nacka. Nacka ist – so Wikipedia – "eine Gemeinde in der schwedischen Provinz Stockholms und in den historischen Provinzen Södermanland und Uppland. Das Zentrum bildet die Stadt Nacka, die 1949 die Stadtrechte erhielt und somit eine der jüngsten Städte Schwedens ist."

Also – das verstand ich auf Anhieb – war der Weg zur Fähre alles, was ich (diesmal) von Stockholm sehen würde. Schade – aber auch sehr schön. Und eine Erinnerung daran, dass der Marathon hier ja ein Hammer sein soll.

Foto: Thomas Rottenberg

Aber laufen kann man überall. Also auch in Nacka. Falsch: ganz besonders in Nacka. Das erklärten mir meine Gastgeber, als ich sie nach Laufrouten (ohne Schwimmzwang) fragte. Der einzige Haken: Ich würde früh raus müssen – schließlich würden wir bereits am Vormittag die Fähre hinaus zu den Inseln nehmen, über die am Tag darauf … und so weiter: Ötillö halt.

Früh aufstehen ist für mich kein Problem. Nicht, wenn ich mir eine neue Landschaft erlaufen darf. Und Nacka war definitiv Neuland für mich. "Nacka is where big city and island meet" heißt es auf www.visitstockholm.com – also stellte ich den Wecker auf halb sechs Uhr morgens.

Foto: Thomas Rottenberg

Im Hotel hatte man mich aber von der "big city" in Richtung "meets island" dirigiert: Die schmucken, neuen und auch für Schweden teuren Wohn- und Businessquartiere im verbauten Teil von Nacka solle ich mir sparen und stattdessen im Naturschutzgebiet von Nyckelviken eine Runde drehen. "Du läufst einfach hinter dem Hotel rauf, lässt dich von den Öltanks nicht irritieren und bist nach 500 Metern im Wald", hatte die Direktive gelautet: So einer Wegbeschreibung kann sogar ich folgen – und sobald ich irgendwo im "Gemüse" bin, bin ich nicht nur zufrieden, sondern habe auch kein Problem mit der Orientierung: Ich will ja nichts Bestimmtes finden – und zurück schaffe ich es in solchen Landschaften immer noch.

Foto: Thomas Rottenberg

Es war das erste Septemberwochenende. In Wien hatte es bei meiner Abreise noch hochsommerliche Temperaturen gehabt. Aber hier, das war Schweden. Und auch wenn die Sonne hie und da schon durch die Blätter und zwischen den Ästen durchblitzte, war es noch ordentlich frisch. Elf oder zwölf Grad, las ich später irgendwo. Aber wunderschön.

Foto: Thomas Rottenberg

Nyckelviken ist seit 1993 ein Naturschutzgebiet. Eine wunderschöne, etwa 130 Hektar große Gegend, die schwedischer nicht sein könnte. Und die auch von den Schweden selbst gerne und intensiv zum Wandern, Spazierengehen und Picknicken genutzt wird: Von den breiten, familientauglichen Wegen zweigen alle paar Meter schmale und schmälere Pfade ab, die sich entweder in Dickicht, an kleinen Bächen oder im Heidekraut verlieren …

Foto: Thomas Rottenberg

… oder einen aber auf diesen für die Küstenregion um den Archipel so typischen, über zigtausend Jahre hinweg von irgendwelchen Gletschern flachgescheuerten Felsen ausspucken. Als Schüler durfte ich über diese tektonische Spezialität Referate halten. Aber als ich da an diesem Sonntagmorgen oft mehr rutschte als lief und vor lauter Glücklichsein über das Hierseindürfen glatt vergaß, den Tracker einzuschalten, wusste ich nur noch, dass das damals gar nicht so uninteressant gewesen war – ich aber dennoch alles, restlos alles, was ich einst über die Schären gewusst hatte, nicht mehr abrufen konnte.

Foto: Thomas Rottenberg

Egal. Denn auch ohne Geografie-Schulwissen war eines klar: Hier ist es schön. Wunderschön. Und zwar unabhängig davon, ob man sich irgendeinen Hügel hinaufarbeitet, um dann von oben den Blick in Richtung Stadt und über die Inselwelt schweifen zu lassen …

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… oder aber, ob man an stillen, lauschigen Buchten der Erste ist, der da heute vorbeikommt. Und sich wie ein junger Hund über den ersten Schnee freut, dass da keine einzige andere Spur im vom gerade zurückweichenden Wasser glattgespülten Sand zu finden ist …

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… oder aber einfach innehält: Hinsetzen, aufs Wasser schauen. Den Tag begrüßen. Glücklich sein: "Enjoy the silence." Es sind Augenblick wie dieser, Läufe oder Spaziergänge wie dieser, die mir jedes Mal wieder die Augen öffnen. Für das, was wirklich zählt. Für das, was für mich schön ist. Was mich zufrieden macht, wofür ich dankbar bin – und was so unendlich viel von dem, worüber ich und so viele andere Menschen jammern und sudern, nicht nur relativiert. Sondern einfach löscht. Zumindest für den Augenblick.

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Natürlich kann Laufen an sich auch meditativ sein. Aber dazu brauche ich andere Reize als Landschaften, Gegenden, Architektur oder Vegetation, die neu für mich sind: Ein routinierter, flacher, lockerer Lauf durch Wien, die (Alte) Donau oder den Donaukanal entlang – das ist meditativ. Aber ein Lauf durch einen schwedischen Wald, wo ich – gefühlt – mehr schaue und staune und Eindrücke einsauge, als tatsächlich zu rennen, ist es nicht. Aber den Kopf kriege ich damit allemal noch frei – und glücklich macht es mich auch.

Foto: Thomas Rottenberg

Nyckelviken ist im Übrigen nicht einfach nur ein Naturpark: In der Mitte des Areals liegt eine prachtvolle historische Villenanlage. So wie man sie aus schwedischen Bildern und Filmen kennt. No na: Hier wird schließlich oft gedreht, wenn man das typische Schweden zeigen will: Henne und Ei … . "Stora Nyckelviken" heißt diese Anlage. Als Sommerresidenz wurden die ersten Gebäude in den 1740er-Jahren von einem Herman Petersen errichtet. Petersen war Direktor der Ostindien-Kompanie. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts wurde das Ensemble dann vom französischen Botschafter Louis Auguste le Tonellier de Breteuil gekauft und annähernd so erweitert, wie es sich heute den Besuchern präsentiert: das aristokratische Pendant zu Bullerbü – und um diese Zeit musste ich es mit niemandem teilen.

Foto: Thomas Rottenberg

Dachte ich. Denn als ich über die große Spiel- und Lagerwiese gelaufen war, stand plötzlich Helen Webster da. Eigentlich gar nicht plötzlich: Den roten Daunenanorak meiner Kollegin vom britischen Triathlon-Magazin "220 Triathlon" hatte ich von weitem auf den Felsen gesehen: Wir hatten einander am Abend zuvor kennengelernt – und hätten eigentlich als Team das Vorrennen des Ötillö, die "Final 15K" bestreiten sollen. Da ich verletzungsbedingt Startverbot hatte, war Helen aber mit einem belgischen Journalisten gelaufen und geschwommen. Der Kollege hatte am Abend eher blass gewirkt. Helen dagegen sagte, sie sei jetzt gerade mal aufgewärmt.

Dennoch kam ich für Helen wohl ein wenig unvermittelt von hinten hinter ihr auf den Steinblock gehopst: Mitten in einem etwas abgelegenen schwedischen Naturpark rechnet man gegen sieben Uhr in der Früh ja nicht unbedingt damit, plötzlich Gesellschaft beim In-die-Sonne-Gaffen zu bekommen.

Foto: Thomas Rottenberg

Helen und ich ticken da – allem Anschein nach – recht ähnlich: Wir mochten einander auf Anhieb, beschlossen spontan, kommendes Jahr beim Ötillö als Team über die Volldistanz anzutreten (und haben diese Zusage dann im Laufe des Bewerbes noch jeweils etwa 20 anderen Leuten gemacht) und sind beide in den letzten Jahren zu Frühaufstehern mutiert. Das dürfte auch an unseren zum Job gewordenen Hobby und den damit zusammenhängenden Trainingsumfängen liegen.

Doch da war eine weitere Gemeinsamkeit: Weder Helen noch ich sind Einzelgänger oder Eigenbrötler – aber Augenblicke wie diesen, Sonnenaufgänge wie hier und morgendliche Lauf- oder Spaziergangsmomente wie jetzt gerade genießen wir lieber alleine. Manchmal jedenfalls.

Foto: Thomas Rottenberg

Außerdem war ich ja laufend und Helen "nur" als Spaziergängerin unterwegs: Bis zur Abfahrt unserer Fähre in Richtung Wettkampfstartinsel waren es noch etwa eineinhalb Stunden – und wenn wir noch duschen, packen und frühstücken wollten, müssten wir wohl beide weiter. Helen auf dem direkten Weg zurück zum Hotel – ich auf einer längeren, mittlerweile flachen Schleife durch den Park zurück in Richtung Hotel.

Foto: Thomas Rottenberg

Aber dann eben doch daran vorbei: "Nacka Strand" dürfe ich nicht auslassen. Das hatten mir am Abend zuvor sowohl die Event- als auch die Hotelleute mehrfach gesagt. Die Promenade sei zwar nicht lang, aber malerisch – und wie oft würde ich schon noch die Chance haben, hier vorbeizukommen?

Stimmt natürlich. Und für einen Binnenlandbewohner ist das Entlanglaufen an Salzwasser ja doch immer etwas Besonderes. Obwohl die gepflegte Parklandschaft mit den Wegen und Eindrücken im Wald dann doch nicht mithalten konnte.

Foto: Thomas Rottenberg

Mit einer Ausnahme: Die 23 Meter hohe, wasserspeiende Skulptur "Gud Fader på himmelsbågen (Gott der Vater auf dem Himmelsbogen) direkt an der Einfahrt in den kleinen Yachthafen der Gemeinde wäre im Wald oder in einer natürlicher wirkenden Landschaft schlicht deplatziert.

Die Skulptur wurde 1995 von Marshall Frederics errichtet. Der Amerikaner orientierte sich dabei an den Plänen des schwedischen Bildhauers Carl Milles, der das Werk 1946 anlässlich der Konstituierung der Uno in New York auf eine Hotelserviette gezeichnet hatte: Milles hätte den Bogen gerne als Friedenssymbol nahe dem UN-Hauptquartier gesehen: ein Bogen, der Firmament und Welt umfasst. Oben steht Gott – aber ohne den Engel auf dem Boden, auf der Erde, der ihm die Sterne für das Firmament reicht, wäre seine Existenz sinn- und zwecklos.

Foto: Thomas Rottenberg

Abgesehen davon, dass mir diese Metapher gefällt, gefällt mir auch das Objekt. Und dass dann, als ich von dort zurück zum Hotel lief, das Licht der Morgensonne im Spray des Wasserbogens aus dem Metallbogen einen Regenbogen in die Morgenluft warf, passte. Es war einfach schön – egal, wie kitschig Ihnen das vielleicht vorkommen mag.

Foto: Thomas Rottenberg

Die Runde durch den Naturpark war nicht lang. Aber doch länger als die getrackte Route: Ich hatte einfach vergessen, den Startknopf auf der Uhr zu drücken. Na und?

Schnell war ich aber nicht unterwegs gewesen. Erstens sowieso. Zweitens weil es hügelig und ein wenig feucht-rutschig war – und ich, drittens und vor allem, immer wieder stehengeblieben war. Um die Kamera abzustellen. Um zu schauen. Oder einfach, um Gerüche und Geräusche zu genießen. Laufen war es trotzdem. Aber vor allem war es schön – und nur darum geht es. (Thomas Rottenberg, 21.9.2016)

Mehr Rottenberg-Geschichten vom Laufen in Schweden und auch anderswo gibt es hier: derrottenberg.com

Hinweis im Sinne der redaktionellen Leitlinien: Thomas Rottenberg war auf Einladung der Veranstalter in Schweden.

Foto: Screenshot Thomas Rottenberg