Durch den öffentlichen Raum der Bibliothek beginnt die Reise zu den "Meisterinnen der Unsichtbarkeit".

Foto: Daniel Jarosch

Evelyn Meister (Ingeborg Schwab) kann sich die begehrten Schuhe nicht leisten.

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In der Stille des Kirchenraums werden auch trübe Gedanken laut.

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Wien – Die Stufen vor der Hauptbibliothek ersetzen die Theaterloge, der Urban-Loritz-Platz wird zur Bühne. Passanten, Würstelstandbesitzer und Greenpeace-Aktivisten bewegen sich als Protagonisten zum Lärm der Stadt, dem Soundtrack einer Inszenierung. Für ihr Stationentheater hat Regisseurin Valerie Kattenfeld aus den Geschichten von zwölf obdachlosen Frauen eine Biografie gebastelt: Evelyn Meister ist ihnen allen gewidmet, den Meisterinnen der Unsichtbarkeit.

Irgendwo in einer Ecke beginnen Straßenmusiker Didgeridoo zu spielen. Ob das zum Stück gehört? Dann erscheint eine Frau mit Trolly und einem blauen aufgespannten Regenschirm. "Folge mir" steht mit goldenen Buchstaben darauf geschrieben und die Reise beginnt. Mit einem auffälligen Glitzer-Sticker gekennzeichnet folgen die Besucher Evelyn Meister, gespielt von Ingeborg Schwab, durch Wien.

Auf einem flotten zwei Stunden Marsch werden die meisten Stationen im Alltag von auf der Straße lebenden Frauen allerdings nur erzählt: Von überfüllten Notquartieren, von einem Spital, das Obdachlosen länger als nötig ein Krankenzimmer zur Verfügung stellt, von Anlaufstellen, bei denen man umsonst oder für wenig Geld essen kann. Tatsächlich als Schauplatz genutzt werden nur sehr stille Orte: die Bibliothek, eine Kirche und eine Privatwohnung.

Durchhaltevermögen

Zu den Stärken des Stückes zählen sicherlich die Reaktionen der ahnungslosen Passanten. Beispielsweise die verwunderten Blicke, wenn eine Frau gefolgt von fünfzehn Menschen aus der sehr kleinen Damentoilette kommt. An öffentlichen Spielplätzen machen erstaunte Jugendliche Evelyn Meister Platz und lauschen andächtig ihren Erzählungen. Zwischendurch gibt es auch Szenenapplaus, wenn sich Bibliotheksbesucher ungewollt im Theaterstück wiederfinden. Schön ist auch, dass Kattenfeld den unsichtbaren Frauen geräuschvoll und auffallend ein Denkmal setzen möchte. Mit CD-Player ausgestattet geht es beschwingt zur Musik durch die Straßen, es wird geschrien und gerappt.

Und dann wird die Situation wieder unglaublich intim. Fast unerträglich nah sind sich alle Beteiligten. Evelyn Meister blickt einem immer wieder lange in die Augen, spricht ihre Begleiter direkt an. Der Weite der Stadt und ihren Straßen werden enge Wohnräume entgegengesetzt. Unter den Premierengästen befindet sich auch eine der zwölf Interviewpartnerinnen der Regisseurin, die immer wieder in Tränen ausbricht. Zu Wort kommen dann alle nochmals am Schluss. Aus dem mitgeführten CD-Player werden Originaltöne der obdachlosen Frauen hörbar, ehe der Abend zu I will survive ausklingt.

Valerie Kattenfeld und Ingeborg Schwab schaffen einen kleinen Einblick in die Welt obdachloser Frauen, die meist sehr darauf bedacht sind, sich nicht als solche zu erkennen zu geben. Immer wieder fragt Evelyn Meister: "Sieht man es mir eh nicht an?" Ohne zu viel zu zeigen, führt ein intensiver und langer Marsch Schritt für Schritt näher an die "Meisterinnen" heran. Vielleicht ein bisschen zu lang dauert das Stück. Und doch sind es nur zwei Stunden, die diese Frauen jeden Tag 24 Stunden lang bewältigen müssen. (Katharina Stöger, 20.9.2016)