Wir verbringen mehr Zeit in Gerichtssälen als im Newsroom": Journalist Can Dündar über die Arbeitsbedingungen in der Türkei.

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Seinen Auftritt vor rund 60 Chefredakteuren und Wissenschaftern beim M100 Sanssouci Colloquium in Potsdam nutzte Can Dündar zu einem Appell: "Die Türkei ist das größte Gefängnis für Journalisten weltweit. Wir brauchen internationale Solidarität", sagte der türkische Journalist, der im Mai wegen der Veröffentlichung von Staatsgeheimnissen für schuldig befunden und zu fünf Jahren und zehn Monaten Freiheitsstrafe verurteilt worden war.

Dündar legte Berufung ein, verließ nach einem Attentatsversuch das Land und gab deshalb vorerst die Chefredaktion vonCumhuriyet ab. Nach Stationen in Spanien hält er sich derzeit in Deutschland auf, seine Frau darf allerdings nicht ausreisen, ihr Pass wurde konfisziert. Er mache sich große Sorgen um sie, sagte er im Gespräch mit dem STANDARD.

Über die drei Monate Einzel-haft hat Dündar das gerade auf Deutsch erschienene Buch Lebenslang für die Wahrheitgeschrieben – "mit der Hand", erzählt er. Denn im Gefängnis wurde ihm das Smartphone abgenommen, "digital detox", scherzt er.

220 Journalisten in Haft

Seinen Angaben zufolge sind derzeit 220 Journalisten in der Türkei in Haft. "Wir verbringen mehr Zeit in Gerichtssälen als im Newsroom." Die Arbeitsbedingungen für Journalisten seit dem Putschversuch, hinter dem er auch die Gülen-Bewegung sieht, hätten sich verschärft: "Es ist heute sehr schwierig, die Öffentlichkeit unter den Bedingungen des Ausnahmezustandes zu informieren. Man kann alles schreiben, solange man bereit ist, den Preis zu zahlen. Der Preis kann sehr hoch sein: Gefängnis oder Tod."

Das Schmähgedicht des deutschen Journalisten Jan Böhmermann fand er "schwierig zu unterstützen wegen des Inhalts. Wir haben es dann aber gemacht, denn es geht um Meinungsfreiheit." Auch die deutsche Kanzlerin Angela Merkel kritisiert er. Fünfmal sei sie in der Türkei gewesen und habe sich nie mit der Opposition getroffen.

Merkel selbst pries Dündar an gleicher Stelle später als Beispiel für Pressefreiheit. Bei der Verleihung des Medienpreises M100 an den italienischen Anti-Mafia-Kämpfer Roberto Saviano würdigte sie den Einsatz der beiden Journalisten: "Wir müssen die Pressefreiheit immer wieder aufs Neue verteidigen und uns daran erinnern, wie schnell sie in Gefahr geraten kann. Pressefreiheit besteht aus der Abwesenheit staatlicher Kontrolle und Zensur." (Alexandra Föderl-Schmid, 16.9.2016)