"Stadt der Verlorenen" von Ben Rawlence.

Foto: Verlag Nagel & Kimche

Wenn am Montag in New York der Flüchtlingsgipfel der Vereinten Nationen stattfindet, sind die Hoffnungen auf große Beschlüsse gering. Auch Ben Rawlence erwartet sich kaum Fortschritte. Der britische Autor kennt die Auswüchse globaler Asylpolitik, er hat das größte Flüchtlingslager der Welt, das vom UN-Flüchtlingshochkommissariat (UNHCR) geführte Camp im kenianischen Dadaab, mehrere Male besucht und ein Buch darüber verfasst. Derzeit ist das vorwiegend von Somaliern bewohnte Lager von der Schließung bedroht, und das hat laut Rawlence verheerende Folgen.

STANDARD: Am Montag findet in New York der UN-Flüchtlingsgipfel statt. Was sollte passieren, um die globale Situation zu verbessern?

Rawlence: Das UN-Flüchtlingshochkommissariat muss ausfinanziert werden. Bevor wir überhaupt über Lösungen reden können, müssen jene, die unter internationalem Schutz stehen, ernährt werden und eine Unterkunft bekommen. In Dadaab wurden die Lebensmittel um 30 Prozent gekürzt. Dadurch haben die Flüchtlinge hier nicht genug zu essen, und sie dürfen, wie in vielen anderen Ländern auch, nicht arbeiten. Die UN-Mission in Kenia arbeitet mit 33 Prozent des Geldes, das eigentlich notwendig wäre. Es ist eine humanitäre Katastrophe.

Außerdem bedarf es hier weit mehr Engagements aller Länder auf allerhöchster politischer Ebene. Wir brauchen eine Art Marshallplan für Flüchtlinge. Wichtig wären spezielle Wirtschaftszonen, wie sie bereits in Jordanien existieren, in denen sowohl Flüchtlinge als auch Einheimische arbeiten dürfen. Das wäre auch keine dauerhafte Lösung, aber auf alle Fälle besser als all die Flüchtlingslager. Es wird Einkommen generiert, man steuert etwas zur Infrastruktur des Gastlandes bei und schafft Arbeit für Flüchtlinge und Einheimische.

Das führt zum dritten Punkt, dass Flüchtlinge als ökonomischer Gewinn betrachtet werden sollen, als produktive Bürger, als Steuerzahler. Wir müssen eine Sprache und eine Politik finden, die das hervorstreicht, anstatt Flüchtlinge als Gefahr zu sehen.

In Dadaab leben rund 300.000 Flüchtlinge. Die meisten von ihnen stammen aus Somalia, wo weiterhin ein Bürgerkrieg tobt.
Foto: AFP/TONY KARUMBA

STANDARD: Und was wird tatsächlich beim UN-Gipfel beschlossen? Bereits im Vorfeld haben mehrere Staaten einen Vorschlag von UN-Generalsekretär Ban Ki-moon zur weltweiten Umsiedlung von Flüchtlingen abgeblockt.

Rawlence: Ich bin sehr skeptisch, dass irgendetwas Produktives dabei herauskommt. Vielleicht gibt es ein paar kleine Initiativen, aber keine großen Würfe. Die momentane globale Einstellung zu Flüchtlingen ist leider inhuman, befeuert durch unverantwortliche Politiker.

STANDARD: Sie beginnen Ihr Buch "Stadt der Verlorenen" mit einem Treffen im Weißen Haus, bei dem Sie dem Nationalen Sicherheitsrat der USA letztlich ohne Erfolg die Situation in Dadaab zu erklären versuchen. Was würden Sie den Regierungschefs und Ministern beim UN-Gipfel sagen?

Rawlence: Ich glaube, sie alle verstehen die Bedürfnisse der Flüchtlinge. Aber sie verbinden zu rasch Terrorismus mit Flüchtlingen. Es geht hier um eine kleine Zahl von Extremisten, psychisch Kranken, die Terroranschläge verüben, und nicht um die Lebenswelt vieler Flüchtlinge.

STANDARD: Terrorismus hat die kenianische Regierung als Grund dafür angeführt, Dadaab im Dezember schließen zu wollen. Nairobi sagt das nicht zum ersten Mal, ist es diesmal ernst gemeint?

Rawlence: Die Regierung versucht Druck auf das Camp auszuüben, aber ich glaube nicht, dass es zu einer Schließung kommen wird, da die eigenen Kapazitäten sehr begrenzt sind. Kenia ist ein schwacher, korrupter Staat, der es nicht einmal schafft, eine funktionierende Polizei einzurichten. Deshalb wird es nicht ein Lager mit 300.000 Einwohnern schließen. Was es aber kann, ist, so vielen Menschen wie möglich Angst einzujagen, damit sie nach Somalia zurückgehen. Und das ist das, was derzeit in Dadaab auch passiert. Etwa zehn Prozent der Menschen hier sind von selbst zurückgegangen oder haben sich für eine freiwillige Rückführung gemeldet.

Dass das größte Flüchtlingslager der Welt seit mittlerweile 24 Jahren existiert, war nicht geplant.
Foto: AFP/TONY KARUMBA

STANDARD: Geht es Kenia nicht auch darum, mehr finanzielle Mittel von den westlichen Ländern zu erhalten?

Rawlence: Es geht ihnen schon auch um Geld, und das haben sie bereits erhalten. Hauptsächlich setzt Kenia Somalier aber tatsächlich mit Terroristen gleich, das ist hier ein sehr ausgeprägtes Vorurteil.

STANDARD: Wäre es grundsätzlich möglich, ein Camp mit 300.000 Menschen zu räumen? Und was würde dann mit den Flüchtlingen passieren?

Rawlence: Kenia könnte das Lager mit Bulldozern und dem Militär räumen, aber ich glaube nicht, dass sie das machen. Eine andere Möglichkeit wäre, das Wasser abzudrehen und die Uno dazu zu bringen, die Lebensmittellieferungen einzustellen. Auch das ist unwahrscheinlich. Falls doch eines der beiden Szenarien eintritt, wird das zu einem großen Exodus in Richtung Somalia führen. Dort werden sie versuchen, Nahrung und Zelte von den Hilfsorganisationen zu erhalten, die schon jetzt große Versorgungsprobleme haben. Sie erreichen gerade einmal zehn bis 20 Prozent jener, die ihre Hilfe benötigen. In Somalia herrscht immer noch Krieg. Man würde die Flüchtlinge mit der Schließung von Dadaab aus einer schwierigen Situation mit zumindest einem bisschen Stabilität in eine noch schwierigere Situation ohne jegliche Stabilität stoßen.

STANDARD: Gäbe es noch andere Möglichkeiten als die Rückkehr nach Somalia?

Rawlence: Weiter nach Kenia schaffen sie es nicht, weil rundherum hunderte Kilometer Wüste sind. Es gibt nur eine Straße nach Süden, und die wird vom Militär bewacht. Ansonsten: Wenn sie es durch hunderte Kilometer somalisches Kriegsgebiet schaffen, können sie nach Äthiopien flüchten. Oder sie probieren es nach Europa, aber das ist kostspielig. Es kostet rund 10.000 US-Dollar (knapp 9.000 Euro), um allein nach Libyen zu gelangen. Nur wenige hier haben so viel Geld.

STANDARD: Wenn man sich ansieht, wie Kenia erfolgreich Geld gefordert hat: Kann dieses Modell Vorbildfunktion für die Zukunft haben, dass die westlichen Staaten viel Geld zahlen, damit andere Länder Flüchtlinge langfristig in riesigen Lagern festhalten?

Rawlence: Ich befürchte schon. Die EU bezahlt der Türkei schon Milliarden, damit die Flüchtlinge dort bleiben. Man sieht auch weitere Camps in Jordanien, eigentlich gibt es bereits Ähnliches in Griechenland. Und den Gastgeberländern sind isolierte Camps weit lieber als Gemeinden oder gar Städte, die langfristig angelegt wären und bessere Lebensbedingungen bieten würden. Bei Dadaab wurde auch kurzfristig geplant, jetzt gibt es das Lager schon seit 24 Jahren.

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Neu angekommene somalische Flüchtlinge warten auf ihre Registrierung in Dadaab.
Foto: EPA/DAI KUROKAWA

STANDARD: Sie haben Dadaab in den vergangenen Jahren mehrere Male besucht und sind gerade wieder dort. Was hat sich in der Zwischenzeit geändert?

Rawlence: Was ich die vergangenen sechs Jahre hier beobachtet habe, ist eine ständige Verschlechterung in jeder Hinsicht, etwa bei medizinischer Versorgung und Zugang zu Bildungseinrichtungen. Die Unterernährung nimmt zu, viele Hilfsorganisationen haben sich nach Entführungsfällen zurückgezogen. Die Menschen sind vor Krieg und Hungersnot geflüchtet, und gelandet sind sie in Lebensbedingungen, die von Tag zu Tag feindlicher und schwieriger werden.

STANDARD: Haben Sie auch mit den Flüchtlingen geredet, die Sie in Ihrem Buch porträtiert haben?

Rawlence: Mit allen von ihnen. Für sie hat sich kaum etwas geändert, sie stecken weiterhin hier in der Falle. Die größte Veränderung ist die wirtschaftliche Krise, hervorgerufen durch die Schließungsdrohung der kenianischen Regierung. Es wird kaum mehr investiert, viele Geschäfte hier schließen, Lehrer gehen nicht mehr in die Schule, weil keiner weiß, wie es weitergeht. Deshalb haben viele auch ihre kleinen, inoffiziellen Jobs verloren, die sie hier im Camp hatten. Die Nebenverdienste wären aber dringend notwendig, weil die Lebensmittellieferungen immer weniger werden.

STANDARD: Sie schreiben in Ihrem Buch von Hotels, Kinos, eigenen Fußballligen, es gibt in Dadaab sogar einen Rotlichtbezirk. Wurde das auch alles eingestellt?

Rawlence: Nicht alles, aber die Aktivitäten wurden drastisch reduziert. Es ist wie in einer andauernden Rezession.

Dadaab im Osten Kenias.

STANDARD: Was war in Dadaab der schockierendste Moment für Sie?

Rawlence: Das Schockierendste war zu sehen, wie hungrig die Menschen hier sind, und dass dann trotzdem die Lebensmittelrationen drastisch gekürzt wurden. Die Flüchtlinge haben sich organisiert, damit die Ärmsten genug bekommen, aber es hat trotzdem nicht gereicht.

STANDARD: In Ihrem Buch spielt das somalische Wort "Buufis" eine wichtige Rolle. Was bedeutet es?

Rawlence: Es ist eine Art Depression, bei der man mit dem Kopf in Europa oder den USA ist, während man mit den Füßen im Flüchtlingslager in Dadaab steht. Die Menschen leben in einer permanenten Unsicherheit, und das Einzige, woran sie sich festhalten können, ist der Traum von einer glücklichen Zukunft. Das macht aber viele irgendwann verrückt, und dann begehen sie Suizid. Das passiert in Dadaab oft. (Kim Son Hoang, 17.9.2016)