Kiepenheuer & Witsch

Christian Kracht ist der deutsche Globalisierer unter den Schweizer Autoren. Er liebt das Unfriendly Takeover von Genres: So kaperte er 2012 unter dem Titel Imperium gut postmodern den (post)kolonialen Südseeroman, obwohl ihm solche Einordnungen immer noch Wutanfälle entlocken. Ebenso liebt Kracht die Provokation, politisch unkorrekt zu scheinen und dann von den Oberlehrern des Literaturbetriebs ins rechte Eck gestellt zu werden. Eine Zeitlang sah es ganz so aus, als wollte er der deutschsprachige Houellebecq werden – aber dazu war er dann doch zu subtil. Die Zeit spricht von "präraffaelitischer Sehnsucht"; Kracht indes führt auch seine Kritiker gern hinters Licht: so zum Beispiel, als er letztes Jahr ankündigte, einen Vampirroman zu schreiben.

Sein jüngstes Buch trägt nun tatsächlich den Titel Die Toten, doch enttäuscht fortwährend den aufgebauten Erwartungshorizont. Auf eine starke japanische Eröffnung, die süffisant ausgekostet wird – natürlich ist es eine Harakiriszene, bei der die "von nur wenigen schwarzen Schamhaaren umspielte" Bauchhaut "angeritzt" wird – folgt nicht viel. Es gebe nur zwei Themen auf der Welt, weiß der Erzähler viel später, "den Sexus und den Freitod"; aber auch um das Fleischliche ist es hier eher mager bestellt – zumindest für den Schweizer Protagonisten.

Chaplin in Japan

Das Romanthema ist eher ein anderes: wie nämlich in den 1930er-Jahren die deutsche Filmindustrie versuchte, im wirtschaftlichen und ideologischen Wettlauf mit Hollywood sich Japans zu bemächtigen. Dies ermöglicht es Kracht, zwei kindheitsgeschädigte Hauptfiguren zusammenzuführen: Auf der einen Seite ist da "ein abgehalfterter Regisseur" aus Bern, "der vor vielen Jahren einmal einen guten Film gemacht hat".

Dieser Martin Nägeli, Paradetyp eines intellektuellen Schweizer Selbsthassers, wird von UFA-Chef und Reichsminister Hugenberg in den 1930er-Jahren auserkoren, den ultimativen deutschen Film in Japan zu drehen – wohin er nach einem opulenten Berlin-Besuch reisen wird, um sich vom Ministerialbeamten Amakasu seine blonde Verlobte Ida abspenstig machen zu lassen, die ihrerseits in den Hollywood Hills den Tod finden wird.

Krachts Roman entpuppt sich somit als Hommage an die Heldengeschichte des westlichen Kinos, jene "Gärten der elektrischen Schatten", wie es gewollt poetisch heißt, oder vielmehr an deren dunkle Seiten. So sind außer Nägeli, Amakasu und Ida so ziemlich alle anderen Charaktere und Ereignisse historisch belegt: Charlie Chaplins Japanbesuch von 1932 etwa, während dessen der Premierminister von nationalistischen Offizieren ermordet wurde; Alfred Hugenberg genauso wie die Filmkritiker Siegfried Kracauer und Lotte Eisner, mit denen Nägeli und der Nazi-Opportunist Heinz Rühmann eine Sauftour durch Berlin unternehmen, sowie in einer Nebenrolle: Fritz Lang.

Drei von ihnen werden sich demnächst in einem Zug nach Paris wiederfinden, als "Deutsche ohne Heimat". So dürfte denn auch die Faschismuskeule diesmal den Autor nicht treffen, wird hier doch – obschon ein wenig konservativ-snobistisch – klare Kritik an der "vulgären Maßlosigkeit" der Nazis und ihrer frühen Kulturpolitik geübt.

Zunehmend fragt sich der Leser aber, wo denn die titelgebenden Toten bleiben. Allein, er wird nicht wirklich fündig – außer dass eben ein paar Leute sterben müssen, Amakasu sich von einem Stück roher Leber ernährt und Nägeli eine merkwürdige Japanerin trifft, die dämonisch in einer Höhle gefangen scheint. Dies alles erinnert ein wenig an das Projekt Deanimated (2002) des österreichischen Experimentalfilmers Martin Arnold, der aus dem klassischen US-Horrorstreifen The Invisible Ghost (1941) digital die Schauspieler "ausradiert" hat; die Spuren, die sie hinterlassen, geben dem Film eine eigentümliche neue Unheimlichkeit.

Misslungen oder: untot?

Bei Kracht geht diese Rechnung nicht auf: Das Spiel mit der Leerstelle verdichtet sich nicht zu großer Bedeutung, und nicht einmal der Erzähler scheint zu wissen, wohin seine Handlung führt. Da nützt es auch nichts, wenn es im Roman einmal augenzwinkernd über das japanische No-Genre heißt: "Die raffiniertesten Geschichten würden sich durch einen Mangel sowohl an Handlung als auch an repräsentativen Charakteren auszeichnen sowie durch die Anwesenheit von Geistern." Aber die Toten bei Kracht sind letztlich auch nur "unendlich einsame Geschöpfe, es gibt keinen Zusammenhalt unter ihnen, sie werden alleine geboren, sterben und werden auch alleine wiedergeboren."

In Summe bleibt der Text feingedrechselt flach und lässt seinen Leser etwas ratlos zurück. Er würde gerne gegen einige der Metaphern und Vergleiche Krachts opponieren, wenn etwa "Hakenkreuzfahnen an den Fassaden Berlins" "wie geistlose Schwalben" hängen. Oder wenn vom "Vogel seiner Sexualität" die Rede ist (nein, es ist kein Vogerl), vom "purpurnen Selbstmitleid" oder von der Einsamkeit des Alters, die sich "um ihn gelegt hatte wie ein abgezogenes Hasenfell". Zu gewollt ist diese preziöse Neodekadenz, Marke Hausmann statt Huysmans – und wenn man böswillig wäre, möchte man fast vermuten, der Autor hätte hier ein Literaturstipendium in Japan abgearbeitet.

Das Resultat kommt in keinster Weise an die Qualität von Imperium heran, sondern spielt eher die Stereotype von Deutschland, Schweiz und Japan gegeneinander aus; der Text wirkt damit auf seine Weise vollendet misslungen, oder: untot? Teile des deutschen Großfeuilletons jedenfalls legen sich gerade – fast wie weiland für André Hellers Buch vom Süden – nicht ganz sauber in die Ruder, um den Roman zum Erfolg zu machen, wie jüngst die FAZ monierte. Aber das wäre nun wirklich übertrieben. (Clemens Ruthner, 10.9.2016)