Ein roter Steg mit halbversunkenem Flügelklavier: In Beverly und Rebecca Blankenships Inszenierung werden Wunden aufgerissen.


Foto: Julia Fuchs

Wien – Familie, das ist ein generationsübergreifender Lebensverbund, in dem meistens über Unbedeutendes geredet und über Bedeutendes geschwiegen wird. Wer will schon alte Wunden aufreißen. Wer will schon sich oder anderen wehtun. Die Dämonen der Vergangenheit sollen sich in den Dunkelkammern des Verdrängens auflösen. Und wer weiß: Wenn man tut, als wäre alles in Ordnung, dann ist es das vielleicht auch. Oder es wird. Mit der Zeit.

Auch in der Familie von Ella Milch-Sheriff in Israel wurde lange Zeit über einiges nicht geredet. Ihr Vater erlebte während des Zweiten Weltkriegs Schreckliches, er verlor in der Shoah seine erste Frau und seinen Sohn. Die Tochter erfuhr es als Teenager nur durch Zufall. Und erst kurz vor seinem Tod hat er in einem Tagebuch seine schrecklichen Erlebnisse aus dieser Zeit aufgeschrieben. Milch-Sheriff hat aus diesen Aufzeichnungen des Grauens erst ein Buch gemacht, Ein Lied für meinen Vater. Nur wenige Jahre später ist dieses "Lied" zu einer Oper angewachsen. Baruchs Schweigen wurde 2010 am Staatstheater Braunschweig uraufgeführt und wird nun im Rahmen des Festivals EntArteOpera zum ersten Mal in Österreich gezeigt.

Yael Ronen teilt im Libretto der Kammeroper den Leidensweg des Vaters in zehn Stationen, zehn miteinander verbundene Bilder ein. Man erlebt eine Familie, in der es fast nur Schweigen und Wut zu geben scheint – und Schläge. "Erzähl es mir", bettelt die Tochter, als sie vom Horror im Leben ihres Vaters erfährt. Die Antworten sind: "Du verstehst gar nichts." Und: "Keinen Tag hättest du die Schmerzen überlebt." Die Musik, die Milch-Sheriff zu dieser Geschichte findet, ist große Kunst: komplex, abwechslungsreich, sinnlich und farbig. Fröhlich zerrupfte Marschmusik in der geschärften Tonsprache eines Kurt Weill wechselt mit dunkel- warmer Fin-de-Siècle-Streicherschwermut, perkussive Agilität mit gespenstisch fahlen Geisterklängen. Das Ensemble EntArte Opera und Mitglieder der Wiener Symphoniker interpretieren die wechselvollen Tongeschichten unter der Leitung von Christian Schulz wie aus einem Guss.

Beverly und Rebecca Blankenship inszenieren das Geschehen im Semperdepot auf einem zentralen roten Steg mit halb versunkenem Flügelklavier (Ausstattung: Susanne Thomasberger). Die acht Sängerinnen und Sänger durchsingen und durchleiden ihre Bühnenschicksale hochintensiv, so etwa Hermine Haselböck (als Tochter), Duccio Dal Monte (als Vater), Ingrid Habermann (als Mutter) und Alexander Kaimbacher (als Bruder). Am Ende kann die Tochter Abschied nehmen, sie kann dem Vater und der Mutter vergeben, weil sie nun versteht. Weil aus Baruchs Schweigen endlich eine Geschichte geworden ist, eine Musikgeschichte berührender Art. (Stefan Ender, 8.9.2016)