Erik Spiekermann beim Drucken eines Plakates mit seiner Schrift FF Real, die auch digital verfügbar ist. Gelegentlich lässt Spiekermann auch Schriften für den Buchdruck aus Ahornholz fräsen. Das sei zwar sehr teuer, aufwendig und wenig zeitgemäß, mache aber Spaß.

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Erik Spiekermann hat die Schrift Meta erfunden, die viele für einen modernen Klassiker halten. Volkswagen, die Deutsche Bahn oder "The Economist" gehören zu seinen Kunden.

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Entworfen für Nokia 2001/2002.

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Eigentlich könnte Erik Spiekermann jetzt stundenlang über Fahrräder reden. Der 69-jährige Gestalter, Grafikdesigner, Buchstabenfreak und Freizeitradler inspiziert das einfache schwarze Rad, das im Berliner Hinterhof steht, wo auch seine Agentur Eden Spiekermann liegt. Er greift an den Lenker, erzählt von blöden Gangschaltungen, drückt die Bremsen, lobt den Rücktritt und muss alles anfassen. Das gehört zu seinem Beruf. So versteht er, warum Dinge funktionieren und dabei noch gut aussehen. Er hat die Schrift Meta erfunden, die viele für einen modernen Klassiker halten. Volkswagen, die Deutsche Bahn oder "The Economist" gehören zu seinen Kunden. Seine Mission: die Welt mit Buchstaben zu verschönern.

STANDARD: Herr Spiekermann, wie viele Schriften haben Sie auf dem Computer?

Erik Spiekermann: Wenn ich nur die Familien wie Arial zähle, sind das 6000.

STANDARD: Finden Sie das zu wenige oder zu viele?

Spiekermann: Es gibt eine einfache Formel, die genauso für Fahrräder, Bücher und Kleidung, aber keinesfalls für Freundinnen gilt: N plus eins. Man muss immer eins mehr haben. Das ist bei Frauen und ihrem Verhältnis zu Schuhen genauso.

STANDARD: Wie kommen Sie denn darauf?

Spiekermann: Das ist eine Beobachtung. Meine Frau hatte gerade Freundinnen zu Besuch, die haben gemeinsam ihre Schuhe durchgeschaut. Sie hat mindestens zwölf Paar abgegeben, die ich noch nie gesehen habe, und trotzdem noch einen Schrank voller Schuhe – und der reicht nicht aus. Die Modelle entsprechen einer Mischung aus Mode und Nutzen: für gutes Wetter, Regentage, längere Spaziergänge, Kurzstreckenläufe, hoher Schaft, niedriger Schaft, braun, schwarz, weiß und so weiter. Das ist bei Schriften ähnlich. Es gibt Funktionen wie lange Texte, kurze Artikel, Gebrauchsanleitungen auf Arzneimittelpackungen, große Dinger zum Angeben. Dann gibt es die emotionalen Schriften: Eine Kekspackung wird eine andere Schrift benötigen als ein Heftpflaster. Als Letztes kommen die Moden hinzu. Im Moment gibt es den Trend, moderne Schriften bewusst kaputtzumachen, sodass sie unperfekt aussehen.

STANDARD: Können Sie das kurz erklären?

Spiekermann: Man nimmt eine normale Schrift und tut so, als sei sie schon 50-mal gedruckt worden und dadurch abgenutzt. Wie verbrauchte Stempel früher oder die Lettern im Buchdruck. Damit es am Ende wie selbstgemacht aussieht.

STANDARD: Warum sollten wir das gut finden?

Spiekermann: Weil es die Gegenmode zum kalten Computer ist. Es muss natürlich technoides Design geben. Um ein Auto für 120.000 Euro zu verkaufen, dürfen sie keine verrostete gemütliche, sondern müssen eine präzise saubere Schrift nehmen. Aber um warm und menschlich zu wirken, bei Wollpullovern oder Vollkornbrot zum Beispiel, darf es ruhig eine sein, die wie mit der Hand geschrieben aussieht. Ich habe heute Morgen mit einer Joghurtfirma in Bayern telefoniert, die diesen Trick nutzt und so den Eindruck erweckt, die Bäuerin schlägt ihren Joghurt noch selbst. Was natürlich Quatsch ist! Wir verlangen Authentisches, obwohl es industriell hergestellt wird.

STANDARD: Was würde passieren, wenn Sie Kekse wie Arzneimittel beschriften?

Spiekermann: Dann denkt der Kunde, der Keks ist künstlich. Deshalb gilt für alle Waren dieser Welt: Man muss sie schmackhaft verpacken, für die jeweiligen Kunden. Ich habe zum Beispiel vor einem Jahr einen Autodesigner von Daimler-Benz gefragt, warum die Mercedes inzwischen so komisch aussehen. Früher waren die eckig, heute sind sie fahrende Schwellkörper.

STANDARD: Was hat er Ihnen geantwortet?

Spiekermann: Der Chinese will Protz und Bling, er will glänzen, deswegen bauen sie die großen Karossen, damit er angeben kann. Ich will mich da nicht reinsetzen. Noch ein Beispiel in die andere Richtung. Wenn ich ins Berliner Umland fahre, um Spargel zu kaufen, halte ich bei einem Händler, der seine Preise auf einem Karton oder mit Kreide auf eine Tafel geschrieben hat, sonst glaube ich dem nicht. Wenn auf einem Schild hingegen mit Kreide geschrieben steht "Flugstunde 90 Euro", setze ich mich in den Flieger bestimmt nicht rein. Das muss mindestens auf einem guten Blatt lesbar ausgedruckt sein.

STANDARD: Nicht mit Times New Roman – das wäre doch ein ästhetisches Verbrechen.

Spiekermann: Die wurde 1931 für die Zeitung The Times entworfen und ist dafür wunderbar. Für den Computerbildschirm ist sie nur völlig ungeeignet. Die ist zu kalt und zu spitz. Das haben auch fast alle gemerkt, außer den Wissenschaftern.

STANDARD: Viele Grafikdesigner halten Helvetica für eine der schönsten Schriften.

Spiekermann: Sie ist weder schön noch hässlich. Um sie mit einem Schuh zu vergleichen: Helvetica ist der gewöhnliche Halbschuh, den man braucht. Eine Schrift ohne Eigenschaften. Das soll sie auch sein. Physisch ist sie für gewisse Zwecke ungeeignet, weil sie geschlossen und breit ist. Das e sieht fast genauso wie ein o aus, nur mit einem Querstrich. Die Formen sind sehr gleichmäßig, deshalb ist sie nicht besonders griffig im Wortbild.

STANDARD: Welcher Lettertyp passt besser?

Spiekermann: Die gute alte Akzidenz Grotesk, die aus den 1890ern stammt und etwas unsauber ist. Sie ist unglaublich lesbar, es fehlt der Zierrat, aber sie hat ein gewisses Rauschen.

STANDARD: Was muss eine Schrift heute aushalten?

Spiekermann: Wir konsumieren mehr Worte als früher, weil wir wie wahnsinnig lesen. Früher war es einmal am Tag die Zeitung, heute schauen wir morgens bis abends auf Bildschirme.

STANDARD: Und das Design sollte am besten auch auf Facebook oder Instagram funktionieren.

Spiekermann: Ich vergleiche das gern mit einem Schlager. Wenn jemand einen solchen in der Badewanne nachbrüllt, obwohl er nicht singen kann, können wir auch nichts dagegen tun. Ich habe Mitte der 1980er-Jahre die Meta für die Bundespost entworfen. Die war als kleine Schrift für die Telefonbücher gedacht, heute sehe ich die drei Meter hoch an Hauswänden. Schrift muss das aushalten, es gibt kein Gesetz, sie nur in einer bestimmten Größe zu verwenden. Es gibt keine schlechten Schriften, nur schlechten Umgang damit.

STANDARD: Gibt es männliche und weibliche Schriften?

Spiekermann: Ich denke, das beruht teilweise auf unseren Vorurteilen. Wenn ich eine geschwungene Schrift sehe, ist das eher weiblich als eine eckige. Das funktioniert, obwohl wir wissen, dass es zwischen männlich und weiblich Zwischenformen gibt.

STANDARD: Das merken Sie an Ihren Kunden?

Spiekermann: Ja, mein typischer Auftraggeber ist ein deutscher Ingenieur. Im Guten langsam und berechenbar, im Negativen auch. Der findet Ornamente ganz grässlich, das muss schnörkellos sein. Ich habe einmal eine Serifenschrift vorgeschlagen, da hat der Kunde gesagt: So was würde ich nie nehmen, das sieht aus wie eine Hochzeitsanzeige.

STANDARD: Was halten Sie von dem Trend, mehr Emojis zu benutzen?

Spiekermann: Das ist der Anfang vom Untergang des Abendlandes. Seit kurzem denkt Apple-Messenger mit, welche Zeichen zu dem passen, was ich tippe. "Lass uns Kaffee trinken und Kuchen essen", dann kommt eine Tasse und ein Stück Kuchen. Wir haben 5000 Jahre gebraucht, um von eingeritzten Zeichen zu unserem abstrakten Alphabet zu kommen. Wir können mit 26 Zeichen von A bis Z alle Shakespear'schen Sonette schreiben, mit einem kleinen Repertoire können wir uns komplex verständigen. Und jetzt wollen wir zurück zur Bildsprache, die zudem missverständlich ist? Ich halte es für einen Rückschritt.

STANDARD: Sie sind sicherlich kaum begeistert, dass weniger Menschen überhaupt noch mit der Hand schreiben.

Spiekermann: Es gibt einen Unterschied zwischen tippen und mit der Hand schreiben. Wenn ich nicht auf die Form gucke, schreibe ich, bis ich in einen Flow komme. Danach gebe ich das in den Computer ein, redigiere den Text beim Übertragen in ein neues Medium. Wenn ich etwas nur am Computer schreibe, merke ich, dass es steif ist. Die Handschrift entspricht eher dem Fluss meiner Gedanken.

STANDARD: Für eine Einkaufsliste brauchen Sie das nicht.

Spiekermann: Die schreibe ich nur mit der Hand, ich schicke auch noch Postkarten aus dem Urlaub. Die Leute wundern sich, aber damit kann ich so was von punkten. Ich war ein paar Tage in Italien unterwegs, habe ein halbes Dutzend Karten gekauft und zwischendurch beim Kaffee geschrieben. Nur kurze Nachrichten, 'wish you were here', das dauert nicht länger, als eine SMS zu schreiben, und alle sind begeistert, dass ich an sie gedacht habe.

STANDARD: Mögen Sie eine handgeschriebene Einladung lieber als eine toll entworfene Karte?

Spiekermann: Natürlich, auch wenn ich selber welche für Freunde anfertige. Ich weiß, welche Mühe dahintersteckt, wenn jemand mit der Hand schreibt: Lieber Erik, würdest Du am 15. August kommen? Wenn ich meine 200 Neujahrskarten verschicke, schreibe ich jedes Mal den Namen des Empfängers mit der Hand darauf – und wenigstens eine kleine persönliche Bemerkung dazu. Das ist ein Tag Arbeit. Wenn ich mir das nicht leisten kann, an einen Freund zu schreiben, wie leid es mir tut, dass ich es zum Beispiel letztes Jahr nicht nach Bremen geschafft habe, wäre es traurig.

STANDARD: Womit schreiben Sie?

Spiekermann: Wenn ich weiches Papier habe und die Schrift größer sein soll, nehme ich einen schweren Montblanc mit einer breiten Feder und blauer Tinte.

STANDARD: Inzwischen kann man in Kulturvereinen Kurse für Schreibschrift belegen. Ein bisschen elitär ...

Spiekermann: Warum das denn?

STANDARD: Wer sich darum schert, dass seine Handschrift hübsch aussieht, hat sonst nicht viele Sorgen.

Spiekermann: Das ist der Luxus, sich etwas Nutzloses leisten zu können. Aber ins Kino zu gehen erzeugt auch keinen Mehrwert. Auf der anderen Seite wollen die Leute entdecken, wie es ist, wieder etwas mit der Hand zu machen. Das ist ein Trend in der ganzen Gesellschaft, vom kleinen Kaffeeröster bis zum Schneiderhandwerk. Das gehört zum Entschleunigen. Es ist Yoga für die Hände, reinigt den Geist, ist also nicht völlig nutzlos.

STANDARD: Man fühlt sich sofort wie in der ersten Klasse.

Spiekermann: Ich habe noch mit Griffel geschrieben, einem ganz dünnen scharfen Graphitstift, fast wie eine Stricknadel sah der aus. Der machte ein ekliges kratzendes Geräusch, wenn man etwas auf die Tafel schrieb. Ich glaube, ich war der letzte Jahrgang, der so schreiben lernen musste. Ich bin 1953 in der Nähe von Hannover eingeschult worden, meine Schwester kam drei Jahre später in die Schule und hatte schon richtige Stifte.

STANDARD: Und in diesen Tagen ist Ihre Liebe zu den Buchstaben geweckt worden?

Spiekermann: Ich weiß nicht, ob ich das postrationalisiere, aber als Kind habe ich meine Mutter mit meiner Zeichenwut zur Weißglut getrieben. Papier lag damals nicht einfach so herum. Gott sei Dank wohnten wir neben einer Druckerei, die hatten diese abgeschnittenen schmalen Reststreifen, auf denen ich herummalte. Mein Vater fuhr Laster mit Anhänger, ich habe dann sechs Anhänger auf so einen Streifen gemalt. Ich weiß noch, wie ich den Druckern zugeschaut und die Schwärze gerochen habe. Das Rasseln der Messingmatrize habe ich für mein Leben lang in meinem Kopf abgespeichert. (Ulf Lippitz, RONDO, 9.9.2016)

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