Die Komponistin Milch-Sheriff hat die Tagebücher ihres Vaters als Buch und Oper verarbeitet. "Baruchs Schweigen" ist das zweite musikalische Werk über die bewegte Geschichte des Shoah-Überlebenden.

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Wien – EntArteOpera stellt sich seit 2012 in den Dienst der Auseinandersetzung mit sogenannter "entarteter Musik". Der Verein beschäftigt sich mit dem umfangreichen Werk vergessener, durch den Nationalsozialismus verfolgter, vertriebener oder ermordeter Musikschaffender. In diesem Jahr steht das Festival unter dem Themenschwerpunkt "Vergessene Komponistinnen". Die Oper Baruchs Schweigen der Komponistin Ella Milch-Sheriff ist eine österreichische Erstaufführung.

STANDARD: Es wurde viel diskutiert, inwieweit die Shoah abgebildet werden dürfe. War es für Sie eine Frage, ob man sich künstlerisch mit diesen beispiellosen Schrecken auseinandersetzen kann? Oder ging es nur um das Wie dieser Auseinandersetzung?

Milch-Sheriff: Baruchs Schweigen ist keine Holocaust-Oper, sondern erzählt meine Geschichte und die Geschichte meiner Schwester. Ich bin in Israel geboren – wie viele in der zweiten Generation. Es geht um eine Frau, die in ihre Heimat zurückkommt. Die Eltern sind praktisch schon tot, und sie hört die Geister des Hauses. In der Oper entdeckt sie langsam die Geheimnisse ihrer Familie und versteht, warum ihre Eltern geschwiegen haben.

STANDARD: Wann haben Sie selbst das verstanden?

Milch-Sheriff: Mein Vater hat geschwiegen, aber geschrieben. Er hat ein Tagebuch geschrieben – zwei Mal. In seinem letzten Lebensjahr in Israel hat er alles niedergeschrieben und meine Schwester und mich beschworen, ein Buch daraus zu machen. Wir haben bald verstanden, warum er nicht darüber reden konnte. Es tat ihm zu weh. Nach seinem Tod haben wir das Originaltagebuch auf Polnisch im Jüdischen Historischen Archiv in Warschau entdeckt, das er in seinem Versteck bei einer polnischen Familie geschrieben und in Polen zurückgelassen hatte. Beim Vergleich haben wir gesehen, dass seine Erinnerung perfekt war.

STANDARD: So wie ich Sie erlebe, kommt zum Bewahren der Erinnerung die Frage, wie man einen Umgang mit Emotionen findet, die mit der Geschichte Ihrer Familie verbunden sind. Kann eine Oper das Unfassbare fassbar machen?

Milch-Sheriff: Mein Vater hat seine Geschichte auf etwa 1600 Heftseiten geschrieben. Man versteht, wenn man das sieht, sein Bedürfnis zu erzählen, was passiert. Es ist keine KZ-Geschichte, sondern eine Geschichte von Flucht, Überleben, von Morden und der Unmöglichkeit, einige Morde zu verhindern, von Schuldgefühlen ... und alles an die beiden Töchter weitergegeben. Für mich hat es sehr lange gedauert, bis ich das lesen und verstehen konnte. Die einzige Möglichkeit für mich war die Musik. Statt einer Psychoanalyse schrieb ich eine Oper.

STANDARD: War das Schweigen in Israel verbreitet?

Milch-Sheriff: Ja. Als junges Mädchen wollte ich überhaupt nichts über den Holocaust hören. Meine Eltern haben überhaupt nicht darüber gesprochen. Und das war bei vielen in der zweiten Generation auch so ...

STANDARD: ... wie übrigens auch in Deutschland und Österreich ...

Milch-Sheriff: Wissen Sie, Baruchs Schweigen ist mein zweites Werk über die Geschichte meines Vaters. Davor entstand das Orchesterwerk Ist der Himmel leer? mit Sprecher und Sängerin, das oft in Deutschland aufgeführt wurde. Und ich habe dort viele Gespräche mit Schülern geführt. Einmal war ich in einer Schule in Düsseldorf. Nach der Stunde kam der Lehrer zu mir und sagte: "Meine Schüler kennen meine Geschichte. Ich möchte Sie um Verzeihung bitten. Mein Haus war wie Ihr Haus schweigsam, schwer und traurig. Mein Vater war ein SS-Mann, der viele Leute getötet hat. Ich konnte ihm nie verzeihen. Aber jetzt stehe ich vor Ihnen und bitte Sie um Verzeihung." Wir haben uns umarmt, und alle haben geweint. Dieser Dialog in der zweiten und dritten Generation ist so wichtig! Das schafft eine etwas bessere Welt, nicht? (Daniel Ender, 7.9.2016)