Gruppenbild ohne Dame, denn die gibt es in der neuen Regierung nicht. Michel Temer (Mitte) ließ sich schon vor seiner Angelobung von seinen Vertrauten lautstark feiern.

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"Optimismus", "Neuanfang" und "Einheit" – das sind die wohl meistgebrauchten Worte von Brasiliens neuem Präsidenten Michel Temer. Steif und unnahbar flimmert der 75-Jährige in seiner ersten Rede als Staatsoberhaupt in die Wohnzimmer der Brasilianer. Elegant gekleidet, das Haar streng zurückgegelt, will er die Brasilianer auf seine Reformen einschwören. "Der Weg ist herausfordernd, aber das Schlimmste ist überstanden", versucht der Politiker der rechtskonservativen PMDB zu vermitteln. "Die Unsicherheit ist vorbei."

Aber die Operation Hoffnung gelingt nicht. Temer ist der Präsident, der nicht gewählt wurde und den niemand wirklich wollte. Zusammen mit seiner Partei hat er einen Machtwechsel erzwungen und auf Ruhe nach der endgültigen Absetzung von Präsidentin Dilma Rousseff durch den Senat gesetzt. Doch die Vertrauenskrise ist noch lange nicht überstanden – eher ganz im Gegenteil.

In großen Städten wie São Paulo, Porto Alegre und Florianópolis kam es noch am Mittwochabend (Ortszeit) zu Ausschreitungen, ge gen die die örtliche Polizei mit Gummigeschoßen und Knüppeln vorging.

Abzug von Botschaftern

Diese Proteste waren wohl nur ein Vorgeschmack auf das, was das Land in den kommenden Wochen erwarten könnte. Auch international ebbt die Debatte über das juristisch höchst zweifelhafte Verfahren der Amtsenthebung nicht ab. Ecuador und Venezuela haben aus Protest gegen die Vorgänge bereits ihre Botschafter aus Brasilien abgezogen.

Temer hat ein aufgewühltes, ja zerrissenes Land übernommen. Mit seiner Regierung aus reichen Politveteranen, in der weder eine Frau noch ein Afrobrasilianer vertreten ist, repräsentiert er die alte Elite, nicht aber die moderne, multiethnische brasilianische Gesellschaft. Bereits drei Minister mussten wegen Korruptionsanklagen zurücktreten – unter ihnen ausgerechnet auch der Minister für Transparenz. Wohl auch deshalb basteln im Hintergrund Vertreter der Regierungspartei PMDB schon eifrig an einem Amnestiegesetz, das Abgeordneten Immunität vor weiteren Korruptionsermittlungen gewähren soll.

Proteststurm gegen Reformen

Gewerkschaften und soziale Bewegungen laufen derweil Sturm gegen die angekündigten Einschnitte bei Arbeitnehmerrechten, gegen die Pensionsreform und die geplante Einfrierung der Sozialausgaben für die kommenden 20 Jahre. "Brasilien wird innerhalb kürzester Zeit um 30 Jahre zurückgeworfen werden", befürchtet Guilherme Boulos, Sprecher der Landlosenbewegung MST. An den Folgen würden ganze Generationen leiden. "Es ist ein wirklicher Putsch gegen die Rechte von Arbeitern", sagt er.

Viele ihrer Gegner hatten nach der Amtsenthebung auf einen Rückzug Rousseffs ins Private gesetzt – doch die 68-Jährige präsentiert sich kampfeslustig; ein "coração valente" (ein mutiges Herz) bescheinigen ihr auch ihre Kritiker. "Ich werde mich nicht verabschieden. Ihr werdet mich nicht los", kündigt sie an. "Sie denken, sie haben uns besiegt. Aber sie irren sich", sagt sie mit Tränen in den Augen. Rousseff will weiterkämpfen und in allen Instanzen ihre Absetzung anfechten, sogar bis vor die Vereinten Nationen ziehen.

Rätseln über die Zukunft

Anders als im Amtsenthebungsverfahren vorgesehen, wird Rousseff nicht für die Dauer von acht Jahren für politische Ämter gesperrt. In einer separaten Abstimmung votierten die Senatoren dafür, so als ob sie damit die Ungerechtigkeit des Verfahrens schmälern könnten.

Allerdings ist eine politische Zukunft der Exguerillera schwer vorstellbar. Volkstribun Luiz Inácio Lula da Silva steht im Rampenlicht und will für die Präsidentschaft 2018 kandidieren. Nach ihrem Umzug in ihre Heimatstadt Porto Alegre, wo Tochter und Enkel wohnen, will Rousseff ohnehin die Entwicklung in Brasilien aus der Ferne beobachten: Sie möchte auf Reisen gehen und Opernaufführungen in Europa besuchen. (Susann Kreutzmann aus São Paulo, 1.9.2016)