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Tönerndes Winken der G20-Staatschefs vor dem Gipfel in Hangzhou.

Foto: ap/Chinatopix

Peking – Wer Pekinger Politikern zuhört und ihre Parteipresse liest, muss glauben, dass im ostchinesischen Hangzhou das Rad der Weltwirtschaft neu erfunden werden soll. Die Propaganda dafür läuft auf Hochtouren. Ihr zufolge setzten überall die Menschen "ihre Hoffnung auf Chinas Fahrplan, wie sich die globale Wirtschaft aus dem Schlamm ziehen lässt". Das behauptete diese Woche ein Leitkommentar auf der Titelseite der "Volkszeitung" zum Auftakt des G20-Gipfel. China verstehe sich nicht nur als Gastgeberland für das Treffen der Regierungs- und Staatschefs der wichtigsten 20 Industriestaaten und Entwicklungsländer der Welt. Es sei auch Wegweiser und "Lichtblick "für die angeschlagene Weltwirtschaft. Unter Pekings Regie sollten die G20-Staaten über den Weg "aus der Krise, in der die Globalisierung steckt" wieder zurückfinden zu den "Chancen, die sie bietet".

Peking mahnt strukturelle Reformen in der Weltwirtschaft an. Von dem Gipfel am 4. und 5. September sollen laut den Ankündigungen von Staatschef Xi Jinping neue Wachstumsimpulse für die Weltwirtschaft und den Welthandel ausgehen. Zusammen stehen die G20-Länder für fast 85 Prozent der globalen Wirtschaftsleistung und 80 Prozent des Welthandels. Die G20 soll Aktionspläne beschließen, Innovationen fördern, dem Protektionismus Absagen erteilen und den eingebrochenen Welthandel wieder ankurbeln.

Finanzminister Lou Jiwei nennt sein Land sowohl die "Antriebskraft" für die Weltwirtschaft als auch einen "Anker", damit sie nicht abdriftet. Chinas Wirtschaft trug 2015 zu einem Drittel zum globalen Wachstum bei, schreibt der Außenwirtschaftsexperte Mei Xinyu vom Handelsministerium. Sie müsste zum neuen "Bannerträger für den Freihandel" werden.

Kehren vor der eigenen Türe

China solle erst einmal seine Hausaufgaben machen, bevor es Forderungen an andere stellen könne: "Marktreform ist für die Inlandsentwicklung nicht mehr länger oberste Priorität," warnte am Donnerstag EU-Kammerpräsident Jörg Wuttke bei der Vorstellung des neuen "Positionspapiers 2016/2017 der EU-Wirtschaftskammer" in Peking. Er beobachte, wie statt versprochener Marktkräfte wieder staatliche Interventionen in die Wirtschaftsentwicklung zunehmen. Und das "in einem größeren Ausmaß, als wir alle erwartet hatten".

Wuttke sprach auch von einem "scharfen Ungleichgewicht", wenn es um den Marktzugang europäischer Investoren in China gehe. Dagegen würden chinesische Unternehmen, die weltweit ihr Engagement im ersten Halbjahr um 58,7 Prozent steigerten, besonders in Europa offene Türen finden. Europäische Investoren aber würden in China "schwerwiegend beschränkt," sagte er drei Tage vor Beginn des G20-Gipfels. Mit seinen unreformierten Strukturen sei China daher nicht nur Teil der Lösung für eine Belebung der Weltwirtschaft, sondern auch Teil des Problems.

Im 435 Seiten starken Positionspapier, das eine Rekordzahl von fast 900 Reformempfehlungen und Beschwerden auflistet, stehen Fallstudien zur Ungleichbehandlung. Während im Auto- oder Komponentenbau Auslandskonzerne in China nur im Rahmen von Joint Ventures operieren dürfen, kaufen sich chinesische Investoren komplette Automarken bis hin zum italienischen Reifenhersteller Pirelli. Südchinas Fosun-Gruppe übernahm im Juli 2015 die Frankfurter Privatbank Hauck & Aufhäuser. Chinas Midea-Gruppe konnte 95 Prozent am Hightech-Roboterhersteller Kuka erwerben. "Riesige Investitionen aus China fließen nach Europa und werden noch stärker zunehmen. Europas Investitionen in China wandeln sich zum Rinnsal, weil es so viele Beschränkungen gibt," sagte Wuttke.

Viele Barrieren in China

Auch der deutsche Botschafter in China, Michael Clauss, meldete sich zu Wort. Der Hongkonger "South China Morning Post" (SCMP) sagte er diese Woche, dass in Europa chinesischen Investoren keine einzige Akquisition verweigert wurde. Dagegen stecke China für ausländische Investitionen noch voller Barrieren.

Deutsche Stimmen haben Gewicht, da sich Chinas Pläne zur Modernisierung und Digitalisierung seiner Industrie "China 2025" am Vorbild "Industrie 4.0" orientieren. Zudem wird der nächste G20-Gipfel kommenden Juli in Hamburg stattfinden.

Botschafter Clauss kündigte an, dass Berlin beim G20-Treffen in Hangzhou auch das Thema der europäischen Flüchtlingskrise zur Sprache bringen wolle. Doch Pekings Führung möchte keine Ablenkung vom Wirtschaftsgipfel, den sie auch als Plattform für ihre Seidenstraßenoffensive mit Infrastrukturprojekten und Finanzierungsfonds wie der Asiatischen Infrastruktrukturbank (AIIB) nutzen will.

Strikte Regie Pekings

Die Aussprachen der Staats- und Regierungschefs sind eng getaktet. Neben Fragen wie "neue Wachstumswege", "effiziente Wirtschafts- und Finanzhebel", die Wiederherstellung "robusten" internationalen Handel und Investitionen und der Infrastruktur- und Konnektivitätsentwicklung bleibt nur die abschließende fünfte Plenarsitzung für "andere Themen, die die Weltwirtschaft beeinflussen".

Pekinger Diplomaten sind seit Wochen unterwegs, um zu verhindern, dass Chinas Territorialstreit um das Südchinesische Meer mit seinen Anrainerländern auf diese Tagesordnung gelangt. Ein Kommentar in der "China Daily" schloss selbst unliebsame Wirtschaftsthemen aus. "Es ist nicht nötig, beim G20-Gipfel über Chinas Überkapazitäten zu diskutieren." Wer die G20 mit solchen Themen überfrachte, dekoriere sie wie einen "Christbaum". Er wolle damit vom Wesentlichen ablenken.

Für Debatten um Menschenrechtsfragen ist erst recht kein Platz. Zur Vorbereitungskonferenz C20 für den Dialog mit den Zivilgesellschaften, der in der Hafenstadt Qingdao stattfand, wurden namhafte NGO und politische Stiftungen gar nicht erst eingeladen und nur drei Journalisten zugelassen.

Bei vielen Beobachtern überwiegt Skepsis, ob der G20 unter einer so strikten Regie Pekings neue "Initialzündungen" zur Beschleunigung der Weltwirtschaft überhaupt gelingen können. (Johnny Erling aus Peking, 2.9.2016)