In diesem Sommer verbrachten wir unseren Urlaub auf einem faschistischen Landgut in der Nähe von Tirrenia, einem Ort in der Toskana, der im Jahre 1932 von Mussolini in der Absicht gegründet wurde, den Sumpf, der die Gegend über Jahrhunderte verseucht hatte, in eine "Perle des Mittelmeeres" zu verwandeln.

Natürlich hatten wir nichts von dieser Geschichte geahnt, als wir die Reise buchten; die totalitäre Vergangenheit ist keine Auszeichnung, mit der man in touristischen Prospekten Werbung macht. Zu klagen hatten wir wenig. Die Unterkunft entsprach durchaus den Ansprüchen eines Menschen des 21. Jahrhunderts, und alles in allem hatten wir nicht das Gefühl, dass uns der Ort zu einem jener neuen Menschen formen wollte, die Mussolini im Blick hatte, als er seine Architekten die neue Stadt entwerfen und schließlich bauen ließ. Man konnte sich hier durchaus frei fühlen, es war möglich, seinen Strandurlaub ohne einen Gedanken an die Geschichte des Ortes zu verbringen. Die Piazza Belvedere war so lärmig und belebt wie der Platz in einem beliebigen anderen Ort am Mittelmeer, im Bagno Imperiale standen dieselben Sonnenschirme wie überall, und nur wenig deutete darauf hin, dass diese Anlagen dem Hirn eines Massenmörders entsprungen waren, ausgeführt von einem Mann namens Constanzo Ciano, der mit dem Duce am Marsch auf Rom teilgenommen und der seinen Sohn mit der Tochter Mussolinis verheiratet hatte, eine Verbindung, die die längste Zeit als eine gute Partie hatte gelten mögen, bis auch der Sohn der Paranoia und der Mordlust des Duce zum Opfer fiel, als Außenminister abgesetzt und des Hochverrats angeklagt wurde. In Verona verurteilte man ihn in einem Schauprozess zum Tode und richtete ihn mit vier anderen vorgeblichen Verrätern hin.

Aber nicht diese Vergangenheit, es war die Gegenwart, die unsere Idylle störte. Wir hatten uns lange überlegt, ob wir in diesem Sommer überhaupt verreisen wollten. Urlaub bedeutet immer eine Flucht vor den Zumutungen des Alltags, aber in diesem Sommer schien dieser Versuch aussichtslos, die Sehnsucht nach Ausbruch beinahe obszön, waren doch gerade die Küsten Europas zu einem Symbol für gescheiterte Fluchten und einen Kontinent in der Krise geworden. Zu viele Strände waren mit Leichen übersät, in Griechenland, Italien und Frankreich, mit den Körpern jener, die versucht hatten, diesen Kontinent zu erreichen, mit anderen, die am Quatorze Juillet die Freiheit und die Republik feiern wollten und dies mit dem Leben bezahlten. (...)

Über die Gründe, warum wir trotzdem fuhren, bin ich mir nicht sicher. Eine gewisse Gewohnheit mag eine Rolle gespielt haben, vielleicht auch dieser Trotz, zu dem man als Europäer in diesen Tagen häufig aufgerufen wurde: Man solle sich von ein paar verrückten Terroristen den Lebensstil nicht vergällen lassen.

Es stellte sich nur die Frage, was der gewohnte Lebensstil eines Europäers alles beinhalte, und diese Frage war es, die aus Tirrenia zwar keinen entspannten, dafür einen umso lehrreicheren Urlaub machte. Erhellend nicht unbedingt durch die spezifische Geschichte jenes Ortes. Lehrreich war vor allem die Erkenntnis, wie fremd einem der eigene Kontinent werden musste, um zu diesem beschworenen, neuen europäischen Lebensstil zu finden.

In Artikeln war oft von der Verunsicherung lesen; über dieses Gefühl der Bedrohung, das den Alltag nun beherrsche und das Nervenkostüm der Europäer angreife und das Leben mehr gefährde als die tatsächliche Gefahr. Man konnte den Eindruck gewinnen, zur Lebensart der Europäer hätten die längste Zeit die Leichtigkeit des Seins, die Ruhe und der Friede gehört. Jedes neue Attentat, jeder zusätzliche Flüchtling schienen deutlicher am Bild Europas zu zeichnen: ein Kontinent, der Demokratie und Menschenrechte nicht nur erfunden, sondern über die ganze Welt verbreitet hatte, jedenfalls dorthin, wo die Menschen klug genug waren, diese europäischen Werte als universelle zu erkennen, anzunehmen und nach ihnen zu leben. (...)

Wer über die Toten in Nizza oder in München las, begegnete selten der Trauer und dem Mitleid mit den Opfern; häufiger fand man eine weinerliche Wut über die Ungerechtigkeit, aus diesem europäischen Gefühl der Unschuld und der Sicherheit gerissen worden zu sein. Diesen Stil hatte sich der Europäer durch die geschichtliche Leistung verdient, während es offenbar einen anderen, nichtwestlichen Stil gab, der zum Nahen Osten, zu Afrika und zu Asien gehörte und der tägliche Bombardements und Massaker beinhaltete. Europa, dieser reife, besonnene Kontinent, weit fortgeschritten in der Entwicklung der Humanität, längst angelangt im Erwachsenenalter der Zeitgeschichte, wurde bedroht von Menschen, die nicht begreifen wollten, dass wir uns diesen gepflegten Lebensstil erarbeitet hatten und leider nicht allen finanzieren konnten; blutig angegriffen von Vertretern einer verspäteten Religion, wie es hieß, von einer Kultur der Verlierer, wie man es las, von frauenfeindlichen Machos, die niemals in der Moderne angekommen waren, einer Moderne, die man als Europäer spätestens seit diesem Sommer gewissermaßen genetisch in sich trug. Als hätte es niemals Europäer gegeben, die nämlichen Lebensstil, der unseren jetzt angriff, ausführlich gepflegt hatten. Man fragte sich, wo die Geschichte noch Platz fand in diesem Selbstbetrug, wo in diesem idealisierten Zerrbild die historischen Erfahrungen geblieben waren, aus denen man vielleicht etwas hätte lernen mögen über die Ursachen und die Überwindung der Gewalt. (...)

Die Kolonialgeschichte in Mosambik zum Beispiel, der Terror in Bologna oder Omagh zum Beispiel, die Diktaturen in Portugal, Spanien oder Griechenland zum Beispiel – all dies war noch in meine Lebenszeit gefallen, aber schien nicht mehr zum Stil eines Europäers zu gehören. Und weiter fragte man sich, wie man es anstellen sollte, um zu dieser neuen Lebensart zu finden, die Lektionen der eigenen Gewalt zu ignorieren und trotz allem seinen Urlaub zu genießen, in diesem Sommer, auf einem faschistischen Landgut in der Nähe von Tirrenia. (Lukas Bärfuss, 26.8.2016)