Ingolstadt/Wien – Simon Ollert hat einen Trick. Er kann einen Knopf am Ohr drücken, dann hört er nichts um sich herum. Nichts lenkt ihn ab. Nichts macht ihn nervös. Manchmal greift er zu diesem Trick, wenn er Fußball spielt. "Das waren immer gute Spiele", sagt er.

Ollert (19) aus München ist von Geburt an gehörlos. Seit er denken kann, will er Fußballprofi werden. Mit seinen Hörgeräten kommt er auf 60 bis 70 Prozent Hörvermögen. Er trägt sie auch auf dem Fußballplatz.

Noch nie hat es ein gehörloser Spieler in die deutsche Fußball-Bundesliga geschafft. Ollert hat es schon ziemlich weit geschafft. Er spielt im Nachwuchs des Erstligisten FC Ingolstadt 04. Kürzlich ist er von der U19 in die U23-Auswahl gewechselt. Ein großer Sprung.

"Ich fange an, mich an das Tempo zu gewöhnen." Die Mannschaft spielt in der viertklassigen Regionalliga. In den bisherigen acht Ligaspielen stand Ollert nicht in der Startformation. "Ich muss geduldig bleiben, dann bekomme ich meine Chancen", sagt er. Beim 1:5 gegen Memmingen wurde er kurz vor Schluss eingewechselt. "Am liebsten hätte ich länger mitgewirkt, um eventuell der Mannschaft zu helfen."

Abi geschafft, Konzentration auf Fußball

Wenigstens hat er diese Saison zwei Sorgen weniger. Die Schule hat er mit dem Abitur abgeschlossen. Und die einstündige Pendlerei von seiner Heimatstadt München fällt weg. Er lebt jetzt in Ingolstadt. Und für den Sport. "In diesem Jahr will ich mich nur auf Fußball konzentrieren", sagt er. Dann will er weitersehen.

Simon Ollert will im Profifußball Fuß fassen. Er spielt mit Hörgeräten, manchmal schaltet er sie aber aus.
Foto: Phonak

Ollert macht sich keinen Stress. Er muss sich an den Herrenfußball gewöhnen, arbeitet derweil an seiner Schwäche, der mangelnden Schnelligkeit. Dafür hat er einen eigenen Fitnesscoach.

Lob vom Trainer

Und die Stärken? Roberto Pätzold, Ollerts Trainer in der Vorsaison, listet auf: "Er ist brutal ehrgeizig, er ist ein Teamplayer, er hat einen klasse Torinstinkt, er rechnet mit Fehlern des Gegners, er absolviert ein hohes Laufpensum, er geht auch dahin, wo’s wehtut." Und Ollert hat einen besonderen Blick für Räume. "Ich sehe die Lücken. Dass ich schlecht höre, gleiche ich mit dem Sehen aus."

Seit einem Jahr trägt Ollert die stärksten Hörgeräte, die derzeit erhältlich sind, die Schweizer Firma Phonak stellt sie ihm zur Verfügung. Seit fünf Jahren hat er digitale statt analoger Geräte. "Ich kann jetzt Meeresrauschen und Vogelgezwitscher hören." Die Kommunikation auf dem Platz ist trotzdem schwierig. "In der Schnelligkeit des Fußballs kann ich mich nicht aufs Hören konzentrieren." Und Lippenlesen auf Entfernung ist auch kompliziert.

Missverständnisse

Die Pfiffe des Schiedsrichters hört er häufig nicht. "Ich achte darauf, ob die Spieler stehenbleiben. Erst wenn alle still stehen, bleibe ich auch stehen. Nicht vorher." Natürlich kann es da zu Missverständnissen kommen. Ein Schiedsrichter zeigte ihm einmal die Gelbe Karte, weil er nach einem Abseitspfiff den Ball ins Tor schoss. Als dieser die Hörgeräte sah, entschuldigte er sich und nahm die Karte zurück. Seither sagt er den Schiris immer vorher, dass er schlecht hört.

Ollert könnte der erste gehörlose Fußballer in der deutschen Bundesliga werden.
Foto: Phonak

Als Ollert vor einem Jahr in Roberto Pätzölds U19-Team kam, machte sich der Trainer Gedanken, wie das mit der Kommunikation funktionieren würde. Die Sache stellte sich dann als einfacher als gedacht heraus. "Simon ist total unkompliziert, er kann Lippenlesen, er ist ein visueller Typ, er schaut, was los ist. Man coacht ihn wie jeden anderen."

Ollert übt nicht nur Fußball

Auf neue Trainer muss sich Ollert immer eine Weile lang einstellen. "Ich präge mir die Mimik und die Gestik ein – ich versuche das im Training auswendig zu lernen." Seinen neuen Coach, Stefan Leitl, hat er mittlerweile ganz gut einstudiert. Während eines Matches schaut Ollert alle paar Minuten an den Spielfeldrand. "Ansonsten spiele ich einfach mein Spiel. Der Trainer wird schon sagen, wenn etwas nicht passt."

Freilich, es kann auch Vorteile haben, nicht alles genau zu hören. Ollert erzählt von einem Spiel gegen Dynamo Dresden. Er und seine Kollegen mussten sich vor dessen Fanblock aufwärmen. Die Zuschauer riefen den Spielern unschöne Dinge zu. "Die Kollegen haben sich schon beschwert. Ich hab’ gesagt: ‚Mich stört das nicht, ich hör’ eh nichts.‘"

"Wenn ein Düsenjet direkt bei mir vorbeifliegen würde, würde ich es in normaler Lautstärke hören."

Ohne Hörgeräte hört Ollert tatsächlich nichts, er hat nur ein ganz kleines Resthörvermögen. "Wenn ein Düsenjet direkt bei mir vorbeifliegen würde, würde ich es in normaler Lautstärke hören." Als er als kleiner Bub die Hörgeräte bekam, mochte er sie sofort. "Normalerweise schmeißen Kinder die Geräte weg. Ich nicht."

Der Kurzfilm "Leben ohne Einschränkungen" der Firma Phonak über Simon Ollert wurde heuer bei den Internationalen Wirtschaftsfilmtagen in Wien mit Gold ausgezeichnet.
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Weil Ollert immer mit gut hörenden Kindern zusammen war, hat er die Gebärdensprache nicht gelernt. "Aber ich habe mir vorgenommen, sie zu lernen."

Ollert ist Münchner, aber kein Bayern-Fan

Ollerts fußballerisches Talent fiel früh auf. Bei Ingolstadt spielt er jetzt das zweite Jahr, davor war er bei Unterhaching. Den FC Bayern hat der Münchner noch nicht auf seiner Liste. Kein Problem für Ollert, er ist nicht sein Lieblingsverein.

"Ich mag leidenschaftlichen Fußball." Ollert gefällt der FC Liverpool. Er verfolgt den Verein seit dessen Erfolg in der Champions League 2005. Die Engländer siegten damals nach einem 0:3-Rückstand im Finale gegen den AC Milan im Elfmeterschießen. "Dort einmal zu spielen – das wäre cool."

In Deutschland schätzte er lange Zeit 1899 Hoffenheim. "Wegen der Jugendarbeit." Von den Bayern mag er zumindest einen Spieler: Thomas Müller. "Bei ihm merkt man, dass er ein leidenschaftlicher Fußballer ist." Ollert ist auch ein leidenschaftlicher Fußballer. Mit Torriecher. In der Vorsaison kam er in 14 Partien auf vier Tore und fünf Vorlagen. "Ich habe nicht so oft gespielt wegen der Schule."

Ollert harmoniert mit Patrick Hasenhüttl

Besonders gut harmonierte er mit seinem österreichischen Sturmpartner Patrick Hasenhüttl, Sohn des Ex-Ingolstadt-Trainers Ralph. "Das waren die besten Spiele, wenn die beiden zusammen gestürmt haben", sagt Ex-Trainer Pätzold. Hasenhüttl junior ist ebenfalls heuer in die U23 gewechselt.

Ollert beim von ihm initiierten Fußballcamp für gehörlose Kinder in Ettal (Bayern).
Foto: Phonak

Ollert ist geduldig. Er versucht, im Profifußball Fuß zu fassen. Vielleicht klappt es, vielleicht klappt es nicht. Simon Ollert hat einen Plan B. Er würde gerne Sportpsychologie studieren. Und gehörlose Kinder trainieren. "Es wäre schön, wenn ich ihnen ein Vorbild sein könnte." Vor einer Woche in Ettal (Bayern) war er das. In einem von Ollert initiierten Camp kickte er mit rund 30 hörgeschädigten Kindern. "Das hat enormen Spaß gemacht. Die Kinder haben mir auch Freude und Motivation für die kommenden Wochen gegeben."

Ollert will weiter an sich arbeiten. Er glaubt an seine Chance. Und wenn es nötig ist, greift er zu seinem Trick, dreht das Hörgerät ab. "Dann bin ich in meiner Welt." (Birgit Riezinger, 29.8.2016)