STANDARD: Für viele junge Leute ist das Kronos Quartet zum Inbegriff eines Streichquartetts geworden. Dabei wurde es gegründet, um anders zu sein. Was war 1973 die Vision?

David Harrington: Ich wollte nie ein normaler Irgendwer sein. Ich war das auch nicht als Heranwachsender. Als ich mit zwölf Jahren in Seattle damit begann, Streichquartette von Haydn, Mozart und Beethoven zu spielen, war das keine normale Sache. Als ich 1973 das Stück "Black Angels" von George Crumb hörte, hat sich für mich alles geklärt, und ich wusste genau, was ich wollte. Als ich dann die Partitur besorgt hatte, wusste ich beim ersten Blick, dass man dafür ein Ensemble brauchen würde, das täglich proben musste, um diese Art von Musik wirklich spielen zu können. Wenn man in die Bibliothek von Seattle ging, gab es dort keine Musik aus Afrika, Asien oder Südamerika – es war unglaublich. Diese Leerstellen wollten wir füllen.

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David Harrington.
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STANDARD: Warum zog es Sie ausgerechnet zur Streichquartett-Besetzung?

Harrington: Schon immer hat mich die Zahl vier fasziniert. Es ist wirklich etwas Perfektes, zwei Geigen, eine Bratsche und ein Cello zu kombinieren und sie wie vier Personen eine Unterhaltung führen zu lassen. Wenn ich Trio gespielt habe, hatte ich immer das Gefühl, dass drei Solisten zusammenkommen. Wenn man zu fünft spielt, ist es schon ein Orchester. Aber im Quartett liegt etwas Magisches. Das Geniale dabei sind die grenzenlosen Klangmöglichkeiten. Von der ersten Probe an wollte ich das Kronos Quartet zwischen den Musikformen herummanövrieren lassen und ein Mosaik von Möglichkeiten schaffen.

STANDARD: Von den Gründungsmitgliedern sind heute nur noch Sie dabei, ansonsten gab es – wie in jedem Ensemble – einige Wechsel. Hat sich das Selbstverständnis des Ensembles im Lauf der Zeit verändert?

Harrington: Also, 1973 hoffte ich, dass wir eine Woche durchhalten! Ich hatte die Idee, Stücke aus allen möglichen Ecken der musikalischen Landschaft zu spielen: Musik aus Afrika oder China. Oder Musik von Komponistinnen. Ich kannte damals überhaupt keine Komponistinnen! Es gab so viele musikalische Phänomene, die einfach nicht vorhanden waren. Einiges hat wohl unsere Arbeit möglich gemacht, und wir konnten mit einigen wirklich wunderbaren Musikern zusammenarbeiten, die für uns und andere neue Möglichkeiten eröffnet haben.

STANDARD: Was waren in den mehr als vier Jahrzehnten die Höhepunkte im Repertoire und an Konzertereignissen?

Harrington: Es gab etliche Höhepunkte. In dieser Hinsicht hatten wir bisher Glück. Eines der großartigsten Dinge war, dass das allererste Stück, das für das Kronos Quartet geschrieben wurde, "Traveling Music" meines Lehrers und Freundes Ken Benshoof war – das gab mir die Zuversicht, dass wir es schaffen würden. Es war wie ein Sprungbrett und ein sehr wichtiger Moment, als wir das Stück uraufführten. Natürlich war es auch ein Höhepunkt, als wir "Black Angels" erstmals spielen konnten. Oder die Zusammenarbeit mit Terry Riley in den letzten 35 Jahren, mit Steve Reich, mit Aleksandra Vrebalov, Astor Piazzolla, John Zorn, Henryk Górecki oder Vladimir Martynov ... Oder wie wir von Witold Lutosławski unterrichtet wurden – das werde ich nie vergessen. Es war zauberhaft, wie er sein Stück geradezu für uns tanzte und wie ein Puppenspieler mit kleinen Elementen seiner Körpersprache seine Musik erklärte. Das war unglaublich. Alfred Schnittke in Warschau zu begegnen – ich hatte nie zuvor einen Menschen mit einer Aura getroffen. Er hatte eine – ich sah und spürte sie. Als wir dann viele Jahre später alle seine Quartette in Moskau aufführen konnten, war das auch ein großartiger Augenblick für uns. Dass wir "Pieces of Africa" veröffentlichen konnten, hat uns neue Welten eröffnet. Mit Wu Man (Pipaspielerin und Komponistin, Anm.) zusammenzuarbeiten war ein weiterer Höhepunkt – ich kenne niemanden, der mit ihr vergleichbar wäre.

STANDARD: Sie waren eines der ersten Ensembles, die das Projekt einer "Weltmusik" verfolgten. Was muss man tun, damit Neue Musik, nichtwestliche Musik und Pop zusammenpassen?

Harrington: Schon wenn zwei verschiedene Komponisten für Streichquartett schreiben, klingen sie anders. Was wir zu erreichen hoffen, ist, wenn wir Terry Riley spielen, seinen spezifischen Sound zu finden, und wenn wir Jimi Hendrix interpretieren, seinen. Wir haben diesen Aspekt als fabelhaften Teil der Interpretation von Musik entdeckt. Man muss sozusagen zu unterschiedlichen Musikern werden. Ich werde nie vergessen, wie es war, mit Astor Piazzolla zu spielen, wie er den Klang aus seinem Bandoneon herauszerrte und wie ich es ihm an der Violine nachmachte. Die Aufnahme der "Five Tango Sensations", die wir mit ihm gemacht haben, dauerte gerade einmal zwei Stunden – die schnellste Aufnahme, die wir je gemacht haben. Und ich merkte, dass er den Klang geradezu aus uns herauszwang. Das war eine unglaubliche Erfahrung! Irgendwie haben wir an diesem Tag wie Piazzolla geklungen. Ich liebe dieses Gefühl. Es ist so, als ob unsere Instrumente Chamäleons wären, die immer jene Farbe annehmen, die gerade gebraucht wird.

STANDARD: Ursprünglich war angekündigt, Sie würden in Eisenstadt auch Haydn spielen. Das ist offenbar nicht der Fall. Warum?

Harrington: Auf eine gewisse Art und Weise spielen wir dennoch Haydn. Das Kronos Quartet würde ohne ihn nicht existieren. Haydn ist die Grundlage aller Streichquartette. Ich denke, alle Musiker arbeiten so, dass sie einfach Variationen bilden. Das machen wir auch. Musiker hören etwas, das ihnen gefällt und das sie in ihr Schaffen integrieren. Haydn machte das die ganze Zeit, er hörte etwa bestimmte "Zigeuner"-Musik und wollte das in seinen Streichquartetten haben – später hörten andere Haydn. Ich war kürzlich im Haydn-Haus in Eisenstadt. Dort gibt es ein Faksimile einer Partitur, als Beethoven ein Quartett von Haydn kopierte. Ich fand das absolut faszinierend, dass ein großer Komponist die Noten eines anderen von Hand abschrieb – und ich glaube, dass Beethoven auf diese Art und Weise lernte, selbst Quartette zu schreiben. Für uns hätte es aber nicht viel Sinn, Haydn auf Schloss Esterházy zu spielen. Wir wollen stattdessen all das feiern, was bei Haydn begann und aus seinem Schaffen hervorging. Das ist für mich das Wunderbarste, was mir machen können. Denken Sie an die vielen Quartette, die vor dem Jahr 1973 entstanden sind. Unglaublich viele – und für manche Leute mehr als genug. Nun, für uns war das nicht genug, sondern eher der Ausgangspunkt für Weiteres. "Black Angels" war für uns ein Stück, mit dem wir in die Welt hinausgehen konnten und das sich anfühlte wie eine Antwort auf den amerikanischen Vietnamkrieg. Wir hatten das Gefühl, damit ein Gegengewicht zu schaffen.

STANDARD: Die Liste Ihrer Uraufführungen ist ebenso lang wie jene der Menschen, mit denen Sie zusammengearbeitet haben, etwa mit dem amerikakritischen Linguisten Noam Chomsky. Sehen Sie in Ihrer Kunst auch eine politische Botschaft?

Harrington: Sicher! Jedes Mal, wenn wir eine Entscheidung treffen – worüber auch immer –, drücken wir damit auch aus, in was für einer Welt wir leben wollen und was wir mit anderen Menschen teilen möchten. Ich denke, man hat einfach keine andere Wahl, als ständig auch eine Botschaft zu vermitteln.

STANDARD: Die USA und Österreich haben eines gemeinsam: Beiden steht im Herbst eine Präsidentenwahl bevor. Wie sehen Sie die Lage?

Harrington: Für mich ist das, was bei dieser Wahl passiert, ganz ähnlich dem, was in einer Bar passiert. Wenn Sie um acht Uhr abends in eine Bar gehen, gibt es dort einen gewissen Lärmpegel. Dann trinken die Leute immer mehr, und man hört immer schlechter, und neue Leute kommen herein und denken sich: "Gott, ist das laut hier!" Was in unserer Gesellschaft momentan passiert, ist ein zunehmendes Schreien und Kreischen, und die Menschen scheinen sich daran zu gewöhnen, dass es lauter und lauter wird. Wir waren während dieses Wahlkampfs einige Male im Ausland, und der Rest der Welt fragt sich, was mit unserer Kultur und Gesellschaft passiert. Wenn man es mit ein wenig Abstand betrachtet, ist das schon beunruhigend. (Daniel Ender, 23.8.2016)