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Natascha Kampusch am 17. August im Rahmen der Lesung zu ihrem zweiten Buch.

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Wien – Vor genau zehn Jahren, am 23. August 2006, ist Natascha Kampusch in Strasshof in Niederösterreich die Flucht vor ihrem Entführer Wolfgang Priklopil gelungen. Der Fall ist für die Polizei nach umfassenden Ermittlungen abgeschlossen. Die Causa gilt als einer der aufsehenerregendsten Kriminalfälle in der österreichischen Geschichte.

Kampusch war 1998 als Zehnjährige auf dem Schulweg entführt und von Priklopil über lange Zeit hinweg in einem nicht einmal sechs Quadratmeter großen Kellerverlies eingesperrt worden. Im August 2006 gelang ihr nach achteinhalb Jahren Gefangenschaft, in der sie geschlagen und missbraucht wurde, die Flucht.

Ihr Peiniger wurde am selben Tag tot aufgefunden, er war von einem Zug erfasst worden. Nach Ansicht der zuständigen Ermittler nahm sich Priklopil das Leben. Der Fall wurde mehrfach neu aufgerollt. Dabei wurden den Behörden zwar Ermittlungsfehler attestiert, Gerüchte über etwaige andere Täter oder Mitwisser wurden aber zurückgewiesen.

Keine Ruhe in Causa

Doch obwohl der Fall für die Polizei nach umfassenden Ermittlungen abgeschlossen ist, kommt auch nach zehn Jahren keine Ruhe in die Causa. Immer wieder melden sich private Ermittler zu Wort, die nicht glauben wollen, dass Priklopil alleine gehandelt haben soll.

Laut der offiziellen – und gleich durch mehrere Ermittlungsverfahren bestätigten – Version wurde die damals zehnjährige Kampusch am 2. März 1998 von Wolfgang Priklopil entführt und mehr als acht Jahre lang in Priklopils Haus in Strasshof gefangen gehalten. Einen Teil der Zeit war sie in dem zu einem "Verlies" umgebauten Keller des Entführers eingesperrt gewesen. Erst im August 2006 gelang der mittlerweile 18-Jährigen die Flucht, ihr Peiniger beging daraufhin Selbstmord. Priklopil fungierte dabei als Einzeltäter, was auch Kampusch selbst immer wieder unterstrich.

Verschwörungstheorien zurückgewiesen

Doch nicht nur Kampusch wies eine etwaige "Mehrtäter-Theorie" zurück, auch sämtliche Ermittlungsverfahren kamen bisher zu dem Schluss, dass Priklopil keine Hintermänner hatte. Zuletzt wies 2013 eine Evaluierungskommission unter Beteiligung des FBI und des deutschen Bundeskriminalamtes alle Verschwörungstheorien zurück: "Die Evaluierung hat ergeben, dass Wolfgang Priklopil die Entführung mit hoher Wahrscheinlichkeit alleine durchgeführt hat", sagte damals der Präsident des deutschen Bundeskriminalamtes, Jörg Ziercke.

Verbindungen des Entführers zu Rotlicht-, Sado-Maso- oder Pädophilenszene "konnten trotz umfangreicher Ermittlungen nicht festgestellt werden". Sehr wohl festgestellt wurden von der Kommission aber "Ermittlungspannen" und "Fehleinschätzungen" bei den Ermittlungen.

Rzeszut mit Vorwürfen

Trotz diesem eindeutigen Urteil tauchen immer wieder – zum Teil auch prominente – Personen auf, die der offiziellen Version keinen Glauben schenken. Einer der lautstärksten Kritiker ist der pensionierte Präsident des Obersten Gerichtshofs (OGH), Johann Rzeszut, der seit 2010 schwere Vorwürfe gegen die mit dem Fall Kampusch betraut gewesenen Anklagebehörden erhebt. Rzeszut verfasste nun auch "Der Tod des Kampusch-Kidnappers: Wahrheitsfindung im Würgegriff". Der Leiter der Evaluierungskommission im Fall Kampusch, der früherer Präsident des Verfassungsgerichtshofs (VfGH), Ludwig Adamovich, landete vor Gericht, weil er in den Raum gestellt hatte, dass es Kampusch nach der Entführung "womöglich besser ergangen war als zuvor bei ihrer Familie". Ihren Entführer Priklopil bezeichnete Adamovich als "Auftragstäter".

Doch es liegt nicht alleine an den diversen Verschwörungstheorien, dass der Fall einfach nicht zur Ruhe kommen will. Immer wieder werden Bücher veröffentlicht, die immer neue Aspekte der Causa aufrollen wollen. Auch Kampusch selbst ist mehrfach in die Öffentlichkeit gegangen. 2012 kam ihr Buch "3096 Tage" auf den Markt, das später auch verfilmt wurde. Anlässlich des Zehn-Jahres-Jubiläums ihrer Selbstbefreiung kam am 12. August "Zehn Jahre Freiheit" (List Verlag, Berlin, 2016, 19,99 Euro, ISBN: 978-3-471-35129-1) in den Buchhandel.

Kampusch über "neue Mauern"

"Bildlich gesehen kam ich aus dem Loch gekrochen, und das Erste, was ich gesehen habe, waren Verträge", heißt es im Buch, das sie gemeinsam mit Heike Gronemeier geschrieben hat.

Kampusch beschreibt die vergangenen zehn Jahre mit den "neuen Mauern", die sich in der Freiheit gebildet haben, wie sie sich von Anfang an von Medienberatern, Psychologen oder Anwälten okkupiert erlebte.

Die von ihr beschriebene "Freiheit" beginnt damit, dass sie bereits Stunden nach ihrer "Selbstbefreiung" aus dem Haus im niederösterreichischen Strasshof schon auf der Polizeiinspektion Deutsch-Wagram mit der "Journaille" konfrontiert wird. "Jeder Journalist, jede Person auf der Straße wusste subjektiv besser über mich und meine Lebensgeschichte Bescheid als ich selbst", erläutert die inzwischen 28-Jährige das ambivalente Verhältnis in der Freiheit.

"Objekt der Analyse"

Die ersten Wochen in dieser verbringt sie im Wiener AKH, und ihre ersten Eindrücke führen für sie rückblickend zur Feststellung, dass die Patienten auf der psychiatrischen Station "noch die Normalsten in dem ganzen Wahnsinn" gewesen seien.

Denn sie empfindet sich als "Objekt der Analyse, des Ehrgeizes, der eigenen Bekanntheit" und als eine "Goldene Gans", die man rupfen müsse. Kampusch zeigt aber auch das Positive der vergangenen Jahre auf, etwa ihr Engagement in Sri Lanka gemeinsam mit der Hilfsvereinigung Don Bosco und ihre Versuche, trotz aller Widrigkeiten weiterzumachen und eine Bestimmung für sich zu finden.

Keine neue Identität

Dass für sie nach der gelungenen Flucht eine neue Identität nicht infrage kam, erklärt sie damit, dass ihr diese bereits in der Gefangenschaft genommen wurde, als sie Prikopil zwang, sich einen neuen Namen zu suchen. "Als 'Frau Meier aus Linz' hätte ich mir vielleicht manches ersparen können", schreibt sie, das hätte sie aber dazu gezwungen, erneut in eine andere Rolle zu schlüpfen.

Ihr Leben als Natascha Kampusch in Wien sollte sich jedoch früh als problematisch erweisen: Am 28. August 2006 verlas der Wiener Kinderpsychiater Max Friedrich einen von ihr geschriebenen Brief, bei dem dieser auch "selbst Hand angelegt" habe, wie Friedrich gegenüber Medien eingeräumt hat. "Dieser Brief war der erste Baustein eines Images, das mir bis heute vorgehalten wird", schreibt Kampusch – auch wenn dieser gut gemeint gewesen sei. Retrospektiv setzt sie ihren Schritt an die Öffentlichkeit in gewisser Weise mit dem Verlust ihrer Geschichte gleich.

Pöbeleien, körperliche Übergriffe

Kampusch erzählt auf den 234 Seiten, wie sie in der Außenwelt viel Unterstützung bekam, aber etwa in manchen Briefen erneut mit "Besitzansprüchen und krankhafte Phantasien" konfrontiert wurde. Sie beschreibt die vielen Pöbeleien und selbst körperliche Übergriffe, denen sie im öffentlichen Raum ausgesetzt war und erzählt von dem "Trotz und Masochismus", den sie alldem entgegensetzte – ehe sie dann nach rund sechs Jahren Probleme damit bekam, ihre Wohnung überhaupt zu verlassen.

"Wahnsinn lebt einfach weiter"

Dazu schildert sie ihre Eindrücke zur Evaluierungskommission und den Vorwürfen von deren Leiter Ludwig Adamovich, von den durch Kriminalexperten erneut zurückgewiesenen Verschwörungstheorien und ihr Leben mit Anschuldigen ihr gegenüber "mögliche Mittäter zu decken, zu lügen, in Selbstmitleid zu versinken und beständig Profit aus einer Geschichte zu schlagen". Fast resignierend stellt Kampusch dann zum Schluss des Buches fest: "Es scheint einfach kein Ende haben zu dürfen. Aber gegen Verschwörungstheorien kann man sich weder mit Argumenten noch mit der Wahrheit wehren. Der Wahnsinn lebt einfach weiter."

Den Vorwurf, mit ihrer Geschichte Geld verdienen zu wollen, ließ die 28-Jährige in einem Interview mit der ORF-Sendung "Thema" nicht gelten, sie wolle ihre Geschichte einfach "selbst erzählen". (APA, red, 23.8.2016)