Auf den wenigen Straßen des 2500-Seelen-Ortes Longyearbyen herrscht reges Treiben: Arbeiter, Studenten, Familien mit Kindern, Hotelangestellte, viele zu Fuß, einige sind in Pick-ups oder Geländewagen unterwegs, und sie alle wirken enorm geschäftig. Praktisch jeder Erwachsene ist erwerbstätig. 43 Nationalitäten leben und arbeiten hier: im Restaurant als Bedienung, in den Hotels an der Rezeption, als Tourguides auf den Gletscherexpeditionen. Die meisten sind Festland-Norweger, gefolgt von Schweden und Thailändern, Dänen, Russen und Deutschen.

Die Postkästen der Inselhauptstadt Longyearbyen sind groß. Es kann ein wenig dauern, bis das Frachtschiff kommt, um Briefe zu holen oder Glühbirnen zu bringen.
Foto: Michael Marek

Ein dynamischer Mikrokosmos: Jedes Jahr zieht etwa ein Viertel aller Einwohner weg, dafür kommen andere aus der ganzen Welt hinzu. Vor allem um in der boomenden Tourismusbranche zu arbeiten. Einheimische findet man selten. In Longyearbyen wird man nicht geboren, heißt es, nach Longyearbyen wandert man aus. Spuren indigener Völker hat man auf Spitzbergen bis heute nicht gefunden.

Kein Weg in andere Orte

Der Ort hat eine Einkaufsstraße, eine Schule, ein Krankenhaus, mehrere Kindergärten, Hotels und Restaurants, ein Kino, ein Schwimmbad, eine Post, einen Polizisten, eine Hubschrauberrettungsstation und eine Tankstelle. Das Straßennetz umfasst gerade mal 46 Kilometer, und keiner dieser Wege führt in einen anderen Ort. Ohnehin gibt es hier mehr Schneemobile als Autos. Denn die Inseln des Archipels sind bis auf die Ansiedlungen in Longyearbyen, Ny-Ålesund, Svea und den russischen Bergarbeiterort Barentsburg unbewohnt.

Kriminalität ist hier unbekannt, allenfalls gibt es zu viel Alkoholkonsum. "Dies ist wahrscheinlich der sicherste Ort auf unserem Planeten", sagt der Vizegouverneur von Spitzbergen, Jens Olav Sæther. Der großgewachsene Enddreißiger, der in einem langgestreckten modernen Holzbau oberhalb des Hafens residiert, ist sichtlich stolz. Außerdem ist die Region gemäß des "Spitzbergenvertrags" von 1925 eine entmilitarisierte Zone – und der nördlichste Punkt der Erde, den man mit einem Linienflug erreichen kann.

Das Sicherheitsgefühl boomt

Das subjektive Gefühl der Sicherheit scheint in Zeiten, die wohl allzu oft als unsicher empfunden werden, einer der Gründe für den aktuellen Tourismusboom auf Spitzbergen zu sein. Wie Norwegens Statistisches Zentralbüro SSB mitteilt, gibt es schon für die ersten vier Monate dieses Jahres eine Steigerung der Besucherzahlen für das gesamte Land um rund elf Prozent gegenüber dem Vorjahr.

Und auf Spitzbergen zählte man vor 20 Jahren um die 20.000 Übernachtungen im Jahr, heute sind es über 110.000. Neben dem Aspekt der Sicherheit gibt es ein noch gewichtigeres Argument für den Boom: den aktuell schwachen Kurs der norwegischen Krone. So ist eine Norwegenreise 2016 rund 20 Prozent günstiger als noch vor einem Jahr.

Der Archipel Spitzbergen besteht aus über 400 Inseln, zwischen denen Versorgungsschiffe verkehren.
Foto: Michael Marek

Nach Spitzbergen im Speziellen kommen mehr Reisende denn je, der einsamen Landschaft wegen oder um einen der rund 3500 hier lebenden Eisbären vor die Kamera für die digitale Sofashow zu Hause zu bekommen. Schon am Flughafen werden die ankommenden Passagiere am Gepäckausgabeband von einem ausgestopften Exemplar begrüßt. Draußen, vor der Halle, warnt ein rotes dreieckiges Schild vor den Bären. Sie können für den Menschen gefährlich werden. Im Fall eines Angriffs wegzurennen ist zwecklos. Eisbären laufen bis zu 40 Stundenkilometer schnell.

Tourismus wichtiger als Bergbau

Einst war Spitzbergen für seine Kohle bekannt: 1906 wurde mit dem Abbau industriell begonnen, heute ist davon bis auf wenige Zechen nicht mehr viel übrig geblieben. Viele Bergwerksschächte sind stillgelegt, "zu unrentabel, der Weltmarktpreis für Kohle ist zu niedrig", sagt Vizegouverneur Sæther und: "Für eine kleine Gemeinde wie Longyearbyen ist der Tourismus wichtiger geworden als der Bergbau. Die Besucherzahlen steigen Jahr für Jahr, das bringt eine Menge Arbeitsplätze und sichert das Einkommen."

Die Zeiten, zu denen man auf Spitzbergen Eisbären jagen konnte, sind vorbei.
Foto: visitnorway.com / Artic Light AS / Asgeir Helgestad

Sæthers Botschaft ist auch in seinem gebrochenen Englisch unmissverständlich: Der Abbau des schwarzen Goldes passe nicht mehr zum heutigen Image von Spitzbergen, und er könne unkalkulierbare Umweltfolgen haben. Heute gibt es noch drei aktive Minen, sagt Sæther. Geblieben ist nur ein alter Brauch aus der kohlestaubverdreckten Zeit: In öffentlichen Gebäuden, Hotels, Museen und der Kirche muss man am Eingang seine Schuhe ausziehen und bekommt dafür Hausschuhe,die überall bereitstehen.

Anfang der 1990er-Jahre begann die norwegische Regierung den Tourismus zu fördern. Bis dahin konnten Besucher nur auf Einladung anreisen. Mittlerweile werden es immer mehr, vor allem im Winter. Dann dreht sich alles um die Nordlichter, wenn neben dem Blau der Gletscher und dem Schwarz der arktischen Nacht eine weitere Farbe zu sehen ist. Grünlich-türkises Licht strahlt vom Himmel, unheimlich, auch weil es sich zu bewegen scheint.

Keine Eisbär-Safaris mehr

Im Sommer kommen die Touristen für 24 Stunden Sonne. Dann werden Ski- und Hundeschlittentouren angeboten. Ein Gewehr gehört dabei ebenso selbstverständlich zum Gepäck wie die Thermoskanne. Viele haben zusätzlich noch eine Schreckschusspistole dabei. Denn töten will hier niemand einen Eisbären. Die Zeiten, in denen man zu Safaris nach Spitzbergen fahren konnte, sind Geschichte.

Auch ein Vier-Sterne-Hotel und ein Gourmetrestaurant gibt es jetzt auf dem Archipel. Mit den Touristen kommen aber neue Probleme, erklärt der Vizegouverneur, man habe ein Müllproblem. Der biologisch abbaubare Müll gehe in den Fjord. Der Rest müsse aufs Festland verschifft werden.

Eine Insel und ihre Grenzen

Immer mehr Kreuzfahrtschiffe suchen die arktischen Gewässer vor Spitzbergen auf, und die Infrastruktur der Insel stößt schnell an ihre Grenzen, wenn eines anlegt. Noch sind die Kaianlagen für die großen Schiffe viel zu klein. Die Pläne für einen neuen Terminal liegen beim "Sysselmannen", dem Gouverneur von Spitzbergen, bereits in der Schublade.

Umweltschützer sehen den zunehmenden Schiffsverkehr in der Arktis allerdings kritisch und warnen vor Havarien im empfindlichen Ökosystem, und selbst der Gouverneur sagt: "Kreuzfahrtschiffe sind enorm wichtig für uns in Longyearbyen. Aber wir wollen nicht die Riesen, die mit Schweröl fahren. Deshalb haben wir Schutzzonen eingerichtet, in denen Schiffe mit solchen Motoren verboten sind."

Das Ökosystem der norwegischen Inselgruppe Spitzbergen ist sensibel. Pläne, größere Kreuzfahrtschiffe anlanden zu lassen, liegen derzeit auf Eis.
Foto: Imago / stock & people

Longyearbyen und die Region haben sich auch zu einem Zentrum für die internationale Klimaforschung entwickelt. 1993 wurde die nördlichste Universität der Welt eingeweiht, rund 650 Studenten sind hier immatrikuliert. Meeresbiologen, Meteorologen, Geologen, Geophysiker und Eisforscher nutzen Spitzbergen für ihre wissenschaftlichen Aktivitäten. "Der Klimawandel ist hier angekommen", sagt Kim Holmén, der schwedische Direktor des norwegischen Polarinstituts.

Der Fjord friert nicht mehr zu

Die Fakten hat er Journalisten und Politikern schon unzählige Male buchstabiert: Der Fjord vor Longyearbyen friert nicht mehr zu, die Gletscher gehen zurück, noch in diesem Jahrhundert kann der gesamte arktische Raum im Sommer eisfrei sein, die Zahl sogenannter gebietsferner Fisch- und Vogelarten ist gestiegen. So sind zum Beispiel Makrelen aus wärmeren Gewässerzonen bis an die Küsten Spitzbergens gewandert. Große Teile Spitzbergens stehen unter Naturschutz, seit 1973 hat Norwegen verschiedene Naturparks- und -reservate eingerichtet, die auch die Küstengewässer mit einbeziehen.

Immer mehr Kreuzfahrtschiffe steuern Spitzbergen an. Große, mit Schweröl angetriebene, will man vorerst nicht anlanden lassen.
Foto: Visitnorway.com / Jens Henrik Nybo

Zu den ständig wechselnden Herausforderungen der Umwelt gehören auch die Beschwernisse des Alltags: Jede Glühbirne muss eingeflogen oder mit dem Schiff vom norwegischen Festland herangeschafft werden, jedes Baugerät, jedes Stück Stahl, jede Arznei, jeder Apfel, jede Zahnpasta – und jede Menge Samen.

Oberhalb des kleinen internationalen Flugplatzes lagert in einem Berg ein ganz besonderer Schatz: gut 865.000 Samenproben von Mais, Reis, Weizen und anderen Nutzpflanzen, die in schwarzen Plastikboxen verpackt sind. Hinter Stahltüren gesichert, geschützt vor Erdbeben, saurem Regen und radioaktiver Strahlung. Sie sollen nach einer globalen Katastrophe helfen, die Erde wieder zu kultivieren. Als "doomsday vault", Tresor des Jüngsten Gerichts, haben Medien den Tresor einmal bezeichnet – und Spitzbergen als allerletzten Ort der Rettung. (Michael Marek, RONDO, 19.8.2016)