Überall fehlt es an Medikamenten, die Kinderklinik J. M. de los Rios ist da keine Ausnahme.

Foto: sandra weiss

Es war einmal das Vorzeige-Kinderkrankenhaus Lateinamerikas. Rund eine halbe Million Patienten wird hier im Jahr versorgt. Nach 17 Jahren Sozialismus ist die staatliche Kinderklinik J. M. De los Rios im Stadtzentrum von Caracas in kläglichem Zustand. Im zweiten Stock türmt sich Bauschutt. Es zieht durch die offenen Löcher, die einmal Fenster waren. Seit zwei Jahren stocken die Renovierungsarbeiten.

Die Krankenhausapotheke wurde bei einem Abwasserrohrbruch überschwemmt und vorübergehend in die Röntgenräume verlegt. Geröntgt wird dort ohnehin selten, denn fast alle Apparate sind kaputt, und die übrigen wurden im Untergeschoß zwischengelagert. Das J. M. Rios ist ein Labyrinth der Improvisation. "Nicht einmal wir Ärzte finden immer auf Anhieb das, was wir suchen", scherzt Huniades Urbina. Er war bis vor kurzem Direktor des Hospitals, wurde aber abgesetzt, nachdem er die hanebüchenen Zustände dort angeprangert hatte.

Der Presse ist der Zugang zu Krankenhäusern verboten, doch auf Umwegen schleust Urbina seine Gäste an der bolivarischen Nationalgarde vorbei. Der Direktor ist wütend: "Wir haben Milliarden aus dem Erdölverkauf eingenommen, und hier sterben uns die Patienten weg!" Das 60 Jahre alte Spital hätte längst von Grund auf saniert werden müssen, doch nicht einmal die Wartung ist gewährleistet. Von drei Aufzügen funktioniert nur einer.

Steigende Kindersterblichkeit

Die Kindersterblichkeit, die im Jahr 2005 auf ein historisches Tief von 13 pro tausend gesunken war, liegt nun bei 17,6. Die Zahlen stammen aus Erhebungen der Ärztekammer, offizielle Statistiken malen hingegen ein rosigeres Bild. "Früher gab es 146 pharmazeutische Labors in Venezuela, 100 haben geschlossen", sagt Ex-Gesundheitsminister Felix Oletta. Impfstoffe sind rar, ebenso wie Empfängnisverhütungsmittel und Antibiotika. Epidemien wie Malaria breiten sich rasant aus. Dabei war Venezuela das erste Land, dessen Städte 1961 von der Weltgesundheitsorganisation als Malaria-frei zertifiziert wurden.

Die sozialistische Regierung, die das Recht auf Gesundheit in der Verfassung festschreiben ließ, wurde vom Fall der Erdölpreise vor drei Jahren kalt erwischt. Dem Staat geht das Geld für Importe von Medizin, Nahrungsmitteln und Apparaten aus; das wenige, was ins Land kommt, wird aufgrund von Preis- und Devisenverkehrskontrollen auf den Schwarzmarkt abgezweigt.

Heute zahlen die Venezolaner einer Erhebung zufolge 65 Prozent ihrer Gesundheitsausgaben aus eigener Tasche – mehr ist es nur noch in Aserbaidschan und Afghanistan. Venezuela steuert auf einen sanitären Notstand zu, befand das von der bürgerlichen Opposition kontrollierte Parlament. Doch der Oberste Gerichtshof, in der Hand der Sozialisten, annullierte diese Kapitulationserklärung, die internationale, humanitäre Hilfe ermöglicht hätte.

Mütter bringen Putzmittel mit

Auf der Intensivstation wischt eine Mutter den Boden auf – das Putzmittel hat sie selbst mitgebracht. Für Putzen, Kochen und Sicherheit sind auf Weisung der Regierung die Mitglieder der regierungsnahen, bolivarischen Zirkel aus den Armenvierten zuständig. Doch die ungelernten Kräfte haben keine Ahnung, wie man ein Krankenhaus steril hält – und zudem wenig Interesse an einem Job, der ein Gehalt einbringt, von dem man nicht einmal den Wocheneinkauf bestreiten kann.

Die vor drei Jahren renovierte Küche ist verriegelt. Sie wurde geschlossen, nachdem sich Patienten über Kakerlaken und Rattenkot im Essen beschwerten. Zurzeit werden die Patienten von Restaurants versorgt, die von den katastrophalen Zuständen gehört haben. Ohne Privatspender ginge gar nichts mehr. Die Station für Nierenkranke konnte Urbina dank Spenden renovieren.

Dort wartet Dayana Palacios für ihren siebenjährigen Sohn Abraham auf eine Dialyse. "Ich finde nirgendwo Kalzium oder das Medikament gegen Bluthochdruck", klagt Palacios. Um die Medizin überteuert auf dem Schwarzmarkt zu kaufen, verzichtet sie auf Mahlzeiten. Es ist ein Teufelskreis. Abraham ist zu dünn für sein Alter. Vor drei Jahren fing er sich Bakterien ein, die sich in seinem unterernährten Körper festsetzten.

Hoffen auf eine Spenderniere

"Er wog damals nur 15 Kilo", erzählt die alleinerziehende Mutter, die ab und zu als Friseurin arbeitet. Abraham braucht eine Spenderniere, doch die Warteliste ist lang. "Früher transplantierten wir zwei Nieren wöchentlich", erzählt Urbina. "Jetzt höchstens noch eine im Monat, weil das Spenderprogramm kollabiert ist." Sieben von neun OP-Sälen sind geschlossen, weil sie nicht mehr steril sind. Derzeit gibt es nicht einmal antibakterielle Flüssigseife.

Im ganzen Land warten nach Schätzungen Olettas 400.000 Menschen auf eine OP. "Vor eineinhalb Monaten haben wir den letzten Herzschrittmacher verpflanzt", erzählt er. Wer kann, geht in ein privates Hospital, doch auch dort wird die Situation immer kritischer, wie ein privat tätiger Gynäkologe erzählt, der aus Angst vor Repressalien anonym bleiben will. "Ich gebe den Patienten Blanko-Rezepte", erzählt er. "Sie kaufen dann einfach das Antibiotikum, das es gerade gibt, und ich passe die Dosis per Telefon an."

Schwarzmakt: Fehlanzeige

Derzeit sucht er verzweifelt das Abtreibemedikament Misoprostol für eine Patientin, deren zwölf Wochen alter Fötus tot ist. Doch es ist nicht einmal bei den mit staatlichen Importeuren vernetzten Schwarzmarkthändlern zu bekommen, die Medikamente zum zehnfachen Preises verkaufen.

Viele Ärzte haben aufgegeben und das Land verlassen. Am Krankenhaus J. M. de los Rios sind von einst 38 Anästhesisten nur noch fünf übrig. Nachwuchs fehlt. Jesús Aguilarte ist Medizinstudent und absolviert am Kinderkrankenhaus sein Praktikum. Der 30-Jährige tut, was er kann, ist aber zunehmend frustriert: "Es fehlt an allem, und die Technologie ist veraltet."

Wie viele seiner Kollegen fürchtet er, vor Gericht gezerrt zu werden, wenn etwas bei der Improvisation schief läuft: "Der Staat wird dann uns die Schuld in die Schuhe schieben." Monatlich verdient er 35.000 Bolivares. Das sind zum Schwarzmarktpreis 35 Euro – so viel, wie ein Wocheneinkauf auf dem Großmarkt kostet. "Wenn das nicht bald besser wird, gehe ich ins Ausland", seufzt er. (Sandra Weiss aus Caracas, 17.8.2016)