Forschung als Gratwanderung: Revolutionen finden meist ohne Fallnetz statt, doch Förderinstitutionen wollen zunehmend Sicherheit für Erfolge.

Illustration: Blagovesta Bakardjieva

Krebs und Hoffnung sind eng miteinander verbunden. Für Patienten, die alle Behandlungsmöglichkeiten ausgeschöpft haben und trotzdem nicht geheilt sind, ist die Immuntherapie seit kurzem eine Alternative. Besonders bei schwarzem Hautkrebs, aber auch Lungen- und Nierenkarzinomen zeigt sie Wirkung. Sie aktiviert die körpereigenen Abwehrzellen, um sie gegen die Erkrankung zu nutzen.

Doch es gibt auch kritische Stimmen, weil im Hype um diese neue Methode klassische Behandlungsansätze in der Forschung zu kurz kommen. "Vielversprechende Entwicklungslinien der Krebstherapie werden abgedreht, weil plötzlich alle sagen: Wir wollen nur mehr zur Immuntherapie forschen", sagt der Biologe Walter Berger, der am Institut für Krebsforschung an der Medizinischen Universität Wien forscht und lehrt.

"Man ist ein bisschen blind geworden vor Begeisterung", so Berger. Zu den klassischen Therapieansätzen, die in der Forschung verdrängt werden, zählt laut dem Wissenschafter die Chemotherapie. Aber auch andere, zielgerichtete Therapien, sogenannte "targeted therapies", seien aus dem Fokus der Forschung gerückt.

Bei der zielgerichteten Therapie suchen Wissenschafter nach molekularen Veränderungen im Tumor und setzen an unterschiedlichen Rezeptoren an, um das Wachstum der Krebszellen mit speziellen Inhibitoren oder Antikörpern auszuschalten. Zielgerichtete Therapien gibt es etwa für Nieren-, Darm- und Lungenkrebs.

Dauerhafte Heilung

Vor erst zehn Jahren habe es bei zielgerichteten Therapien einen ähnlichen Hype wie derzeit in der Immuntherapie gegeben, meint Berger. Die Chemotherapie war zeitweise vom Forschungsradar verdrängt. Durch die Immuntherapie erleiden die "targeted therapies" derzeit das gleiche Schicksal.

Wobei Forscher Berger die Immuntherapie für eine, wie er sagt, "faszinierende" neue Methode hält, die in der Krebsbehandlung einen wichtigen Stellenwert haben wird – beim schwarzen Hautkrebs etwa hat sich der Einsatz von Wirkstoffen wie Nivolumab etabliert. Doch bei vielen Krebsarten gehört die Chemotherapie nach wie vor zur Behandlungsoption erster Wahl, insbesondere dann, wenn keine operative Entfernung des Tumors möglich ist.

Metastasierter Hodenkrebs zum Beispiel ist mit Chemotherapie sogar auf Dauer heilbar. Es gebe dementsprechend viel Potenzial für die Erforschung neuer Strategien und Ideen, die im Zusammenhang mit der Chemotherapie stehen, so Berger. "Solche Projekte haben aktuell so gut wie keine Chance auf Förderung."

Dabei könnte gerade eine integrative Weiterentwicklung der verschiedenen Therapiestrategien in Kombination mit neuartigen Immuntherapien ein Schlüssel zum Erfolg bei vielen Erkrankungen sein.

Wofür es Geld gibt

Aber lässt sich dieser Befund eines Biologen mit harten Zahlen belegen? Ja, zumindest eine klare Tendenz in diese Richtung ist erkennbar. Die Grundlagenforschung in Österreich wird vor allem vom Wissenschaftsfonds FWF und vom European Research Council (ERC), einer EU-Institution, gefördert. Daneben gibt es noch kleinere Subventionsgeber wie den Jubiläumsfonds der Oesterreichischen Nationalbank.

Der ERC hat auf Anfrage des STANDARD eine Auswertung seiner Forschungsdatenbank durchgeführt. Der ERC fördert seit 2008 Wissenschafter, seither wurden diverse Projekte im Zusammenhang mit der Erforschung von Krebserkrankungen mit 640 Millionen Euro gefördert. In 182 Projekten wurde der Frage nachgegangen, wie das Immunsystem bei einer Tumorerkrankung aktiviert werden kann. Nur 28 Arbeiten zu Chemotherapien wurden unterstützt.

Beim österreichischen Wissenschaftsfonds FWF hat man solche Zahlen nicht bei der Hand, und auf Anfrage heißt es, dass der FWF die Forschenden aller Disziplinen Themen frei wählen lässt. Jeder kann Projekte einreichen, thematische Vorgaben gibt es nicht. Für die klinische Medizin gibt es sogar seit einigen Jahren eine gesonderte Förderschiene: "Wenn in einem Fachbereich aber Modethemen aufkommen, kann man sich als Fördereinrichtung dieser Tendenz nicht wirklich erwehren", sagt Falk Reckling, Leiter der Strategieabteilung beim FWF.

Gutachten als Grundlage

Das liegt an der Art und Weise, wie wissenschaftliche Förderungen vergeben werden. Eingereichte Projekte werden von internationalen Gutachtern evaluiert. Positive Gutachten sind die Grundlage dafür, dass eine Förderung ausbezahlt werden kann. Beim FWF sind es je nach beantragter Fördersumme mindestens zwei Gutachten, die ein geplantes Projekt bewerten. Die Gutachter müssen aber selbst vom Fach sein, um eine Bewertung abgeben zu können. Damit sind natürlich auch sie Modeströmungen in einem Fach unterworfen.

Hinzu kommt noch ein Aspekt in der Forschungslandschaft: Auf vielen Gebieten sind es einige wenige prominente Wissenschafter, die den Löwenanteil der Förderungen erhalten. Die persönlichen Vorlieben dieser Forscher spielen eine große Rolle dafür, woran gearbeitet wird.

Dass die Immuntherapie einen Hype in der Forschungselite ausgelöst hat, ist nicht überraschend. Die Behandlung wird häufig als "bahnbrechend" oder "revolutionär" bezeichnet, obwohl sie in der Regel nur für bestimmte Patientengruppen mit bestimmten Tumorerkrankungen überhaupt infrage kommen.

Erhebliche Nebenwirkungen

Von den Forschern selbst wird diese Stimmung getriggert. Oft werden schon Experimente an Mäusen und Ratten als "Durchbruch" gefeiert, obwohl nicht gesagt ist, dass ein Wirkstoff, der bei einem Tier wirkt, auch beim Menschen eingesetzt werden kann. Auch die Nebenwirkungen bei der Immuntherapie können erheblich sein.

Für Wissenschafter, die abseits der Immuntherapie arbeiten wollen, kommt erschwerend hinzu, dass die Forschungslandschaft in Österreich, was öffentliche Ausgaben betrifft, derzeit ohnehin keine einfachen Zeiten durchlebt. Laut einem Bericht der Bundesregierung werden heuer 10,74 Milliarden Euro für Forschung und Entwicklung ausgegeben, etwas mehr als im Jahr davor. Davon entfallen 3,84 Milliarden Euro auf die öffentliche Hand. In diesem Betrag sind allerdings eine Reihe von Kosten enthalten, etwa die Basisfinanzierung für die Universitäten sowie Personal- und Gebäudekosten.

Wenn es um wirklich Neues geht

Betrachtet man nur die Ausgaben für die tatsächliche Grundlagenforschung, muten die Zahlen schon deutlich bescheidener an. Der FWF hat im vergangenen Jahr knapp über 200 Millionen Euro ausgeschüttet. Das ist etwas weniger als noch 2014. Rund 20 Prozent der angesuchten Fördermittel werden vom FWF bewilligt. Diese Quote ist in den vergangenen Jahren kontinuierlich gesunken.

Vor Ausbruch der Wirtschaftskrise 2008 wurden rund 30 Prozent der beantragten Gelder genehmigt, vor zehn Jahren waren es rund 26 Prozent. Auch für die Zeit zwischen 2015 und 2018 sieht es in puncto Fördergelder laut Wissenschaftsfonds nicht sehr gut aus, die Ausgaben des FWF dürften stagnieren.

Dabei gilt die Grundlagenforschung als ein Fundament des Fortschritts, "weil nur hier, im freien Spiel der Wissenschaft, das wirklich Neue passiert", wie der österreichische Wissenschaftsrat, der die Universitäten berät, einmal explizit festgehalten hat. Grundlagenforschung ist anwendungsoffen, sie zielt auf Erkenntnisgewinn ab, während bei angewandter Forschung meist eine konkrete Verwertungsmöglichkeit (für ein neues Medikament zum Beispiel) im Vordergrund steht.

Eine ganz strikte Abgrenzung ist freilich nicht möglich. Wenn schon öffentliche Förderstellen für die Grundlagenforschung vor allem auf das Modethema Immuntherapie setzen, so ist diese Tendenz bei den Pharmaunternehmen noch stärker.

Schmerzliche Erkenntnis

Dass diese Strategie mit Risiken behaftet ist, musste Bristol-Myers Squibb (BMS), einer der Schwergewichte in der Immunforschung, schmerzlich erfahren. BMS musste Anfang August vermelden, dass sein Immunpräparat Opdivo nicht, wie erhofft, bei Patienten wirkt, deren Erkrankung in einem fortgeschrittenen Stadium ist und die vorher noch nicht mit anderen Therapien gegen Lungenkrebs behandelt worden sind.

Als Folge der schlechten Nachricht brach der Börsenwert des Konzerns ein, BMS verlor an einem Tag 20 Milliarden US-Dollar an Wert. Der Konzern ist in der Krebsforschung auf Immuntherapie fokussiert, aktuell läuft bei BMS keine einzige Studienreihe zu einer reinen Chemotherapiebehandlung.

Die Reaktion auf den Misserfolg bei Opdivo wird vom Unternehmen selbst als Überreaktion der Aktionäre bewertet, schließlich sei Opdivo nicht nur für dieses bestimmte Stadium von Lungenkrebs, sondern auch für andere Erkrankungen und andere Stadien zugelassen. Stimmt diese Sicht, hieße das, dass auf den überschwänglichen Optimismus oft übertriebener Pessimismus folgt. Wie so oft könnte die Wahrheit irgendwo in der Mitte liegen. (András Szigetvari, CURE, 11.10.2016)