Hauptverbandschefin Ulrike Rabmer-Koller und Gesundheitsexpertin Maria Hofmarcher-Holzhacker haben ein Ziel: Der Patient soll im Mittelpunkt stehen.

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STANDARD: Welche Metapher fällt Ihnen für das österreichische Gesundheitssystem ein?

Maria Hofmarcher: Das österreichische Gesundheitssystem ist ein Finanzdschungel. Es gibt viele unterschiedliche Finanztöpfe, viele unterschiedliche Geldströme, die scheinbar unauflösbar miteinander verquickt sind. Alle haben ihre Geschichte, ihre eigene Logik, die eine Zusammenführung der Mittel im Sinne der Effizienz sehr schwermachen. Eine Durchforstung der Systeme wäre aber dringend notwendig.

Ulrike Rabmer-Koller: Ich vergleiche Österreichs Gesundheitssystem gerne mit einem riesigen Tankschiff. Auf der Kommandobrücke stehen mindestens 30 Kapitäne. Das ist zu viel. Jeder Einzelne will in eine andere Richtung. Dass eine generelle Richtungsänderung unbedingt notwendig ist, ist allen klar, aber es gibt keinen Konsens darüber, wohin das Schiff steuern soll.

STANDARD: Welcher Gefahr gilt es gegenzusteuern?

Rabmer-Koller: Dem Misslingen der Sicherstellung der medizinischen Versorgung in Österreich – jetzt und vor allem in der Zukunft. Das sollte uns allen ein Anliegen sein. Ich habe eine Vermittlerrolle in diesem Prozess.

STANDARD: Fehlen die finanziellen Mittel?

Rabmer-Koller: Nein, elf Prozent des Bruttoinlandsprodukts fließen ins Gesundheitssystem. Wir haben ausreichend Budget. Das Problem ist die herrschende Ineffizienz. Input und Output stimmen nicht, das ist ein Strukturproblem. Wir investieren viel Geld in Gesundheit, dafür sind die Menschen in Österreich insgesamt aber zu krank oder nicht gut genug versorgt.

Hofmarcher: Es gibt viel Geld im System, das verschwendet wird. Eine Debatte über Effizienzszenarien wäre deshalb notwendig. Die Krankenhauszentriertheit ist das große Problem in Österreich, könnte aber auch Teil der Lösung sein, etwa wenn Kassenfachärzte Spitalsambulanzen für ihre Ordination nützen.

Rabmer-Koller: Die Versorgung von Patienten in Spitälern ist zehnmal so teuer wie im ambulanten Bereich. Diabetes ist ein gutes Beispiel. Wenn Diabetiker im niedergelassenen Bereich gut versorgt sind, müssen sie nicht ins Spital, weil sie keine Folgeschäden wie Nierenprobleme haben oder Amputationen notwendig wären. Trotzdem gibt es Regionen in Österreich, wo Diabetiker nur in Spitälern versorgt werden. Da müssen wir an den entsprechenden Stellschrauben drehen, um die Situation zu ändern. Davon profitieren die Patienten, und wir sparen Kosten. Die Patientenzahlen für Diabetes steigen. Das ist ein Zukunftsthema. Prävention ist ein Schlüsselwort. Mehr Jahre in Gesundheit ist ein Ziel. Das gilt nicht nur für Diabetes.

STANDARD: Wer könnte da dagegen sein?

Rabmer-Koller: Die große Herausforderung ist das Zwei-Säulen-Modell in der Finanzierung des Systems. Spitäler werden von den Ländern finanziert, der niedergelassene Bereich von den Sozialversicherungen. Jetzt soll umgeschichtet werden. Es geht darum, den relativ teuren Spitalsbereich zu reduzieren und den niedergelassenen Bereich auszubauen.

Hofmarcher: Was wirklich fehlt, ist eine Debatte darüber, was zukünftig der Bund und was die Länder machen sollen. Und das meine ich ganz generell. Im Gesundheitssystem gibt es etablierte Lager, die für Stillstand sorgen und Kreativität verhindern. Eine Möglichkeit wäre, Mittel für die ambulante Versorgung auf regionaler Ebene zusammenzuführen und sie an Bundesvorgaben zu knüpfen. Die Instrumente dafür gibt es, es sind die regionalen Strukturpläne.

Rabmer-Koller: Das Problem dabei: Spitäler schaffen Arbeitsplätze. Das ist lokalen Politikern ein Anliegen. Eine Strategie wäre es, dort, wo Spitäler geschlossen werden, ambulante Primärversorgungseinrichtungen aufzubauen, gemeinsam mit einer Facharztversorgung. Diese Strategie wäre auch politisch durchsetzbar.

STANDARD: Wer wäre dann der Zahler?

Rabmer-Koller: Wir versuchen es derzeit über den Finanzausgleich. Ich führe gerade Gespräche mit den Ländern, und eine Idee ist, eine gemeinsame Finanzierung auf Schiene zu bringen. Als Sozialversicherung stehen wir vor der Herausforderung, immer mehr Kosten übernehmen zu müssen, weil das aus objektiver Sicht das System langfristig kostengünstiger macht, aber uns fehlen die Mittel, das zu finanzieren. Deshalb drängen wir darauf, dass das Prinzip "Geld folgt Leistung" auch im Finanzausgleich umgesetzt wird.

Hofmarcher: Es geht um ein Zusammenführen von Aufgaben- und Ausgabenverantwortung. Dazu braucht man Mut, weil das die Strukturen verändern würde. Konkret wäre eine Zusammenführung der Finanzierungsmittel eine Lösung, zum Beispiel in einem Fonds, der gemeinsam von Krankenkassen und Ländern gesteuert wird. Die Bundesgesundheitskommission wäre ein wichtiges Steuerungsgremium, das derzeit zu wenig genutzt wird.

Rabmer-Koller: Wir müssen wissen, wohin wir wollen, doch derzeit haben wir kein gemeinsames Ziel. Als Unternehmerin weiß ich: Ohne Ziel kann man auch keine Entscheidungen treffen. Die Vielschichtigkeit, die Unzahl der Finanzierungsquellen und die Unübersichtlichkeit lähmen die Gesundheitsreform. Es dominieren Interessenlagen. Und klar: Dinge anzusprechen erfordert Mut, Entscheidungen zu treffen auch.

STANDARD: Haben Sie diesen Mut?

Rabmer-Koller: Wenn wir nichts ändern und die Mittel nicht effizient einsetzen, wird es immer schwieriger werden, medizinische Innovation und moderne Leistung zu finanzieren. Deshalb brauchen wir den Willen zu Reformen und die Unterstützung der Regierung. Es bringt ja nichts, aus der Sozialversicherung heraus Vorschläge zu machen, wenn sie der Gesetzgeber nicht umsetzt. Als Vorsitzende des Hauptverbandes habe ich die Aufgabe, die Gesundheitsreform voranzutreiben. Ich selbst habe aber kaum Entscheidungsmöglichkeiten, auf das Gesamtsystem einzuwirken.

Hofmarcher: Obwohl es auch ein Modell wäre, den Hauptverband in seiner Entscheidungskraft zu stärken. Er könnte Vorgaben zukünftig auch definieren.

STANDARD: Ein Vorwurf ist immer wieder, dass die Sozialversicherung in ihren Strukturen unwirtschaftlich ist. Es gibt insgesamt 22 Krankenkassen.

Rabmer-Koller: Die Kosten sollten dort, wo sie entstehen, auch beglichen werden. Das ist eine Schiene innerhalb des Gesundheitssystems, die wir verfolgen. Die andere ist ganz sicher, innerhalb der Sozialversicherungen Einsparungspotenziale zu heben. Die Regierung hat nun eine Effizienzstudie fixiert, die im ersten Quartal 2017 fertig sein soll. Da haben wir in der Sozialversicherung bereits Vorarbeiten geleistet. Es geht darum, Ergebnisse zu sichten, zu evaluieren, Vorschläge zu erarbeiten.

STANDARD: Warum soll diese Studie im Sozialministerium abgewickelt werden?

Rabmer-Koller: Das wurde im Ministerrat beschlossen. Wir brauchen ein klares Konzept für mehr Effizienz im System und danach den Mut zu Veränderungen. Kanzler und Vizekanzler werden hier sicherlich eingebunden sein, denn bei der Umsetzung von Reformen ist ein breiter politischer Konsens wichtig.

STANDARD: Sind Gesundheitssysteme in anderen Ländern besser aufgestellt?

Hofmarcher: Jedes Gesundheitssystem doktert ständig an sich herum. Das hat evolutionären Charakter und liegt auch daran, dass sich die Anforderungen ständig verändern. In Deutschland, Holland und Dänemark verfolgt man rationale Strategien. Bei der Versorgung chronisch Kranker, einer wachsenden Gruppe von Menschen, hat man in Dänemark Steuerungsfragen mit Versorgungszielen verknüpft. Die Holländer haben ein extrem transparentes System geschaffen, das ermöglicht die Umsetzung von Strategien. In Deutschland funktioniert das Modell der integrierten Versorgung, das mit finanziellen Anreizen verknüpft ist, recht gut. Doch jede Reform ist immer mit ideologischen Fragestellungen verknüpft. Wir könnten mehr tun, aber die gesetzliche Verfasstheit sieht vor, dass kein Akteur in den Fahrersitz darf. Es fehlt Leadership. In Österreich sind die Dinge meist kooperativ geregelt, bedauerlicherweise hat dieses System in der Gesundheitsversorgung bislang versagt.

STANDARD: Worauf könnte man sich ideologisch einigen?

Rabmer-Koller: Darauf, den Patienten bei allen Entscheidungen in den Mittelpunkt zu stellen. Jeder, der dringend Versorgung braucht, muss sie auch bekommen. Ich möchte nicht so wie in England einen Ethikrat, der über medizinische Behandlungen entscheidet. Klar ist, dass wir eine Solidargemeinschaft sind. Ich finde die Metapher eines Zuges ganz treffend. Klar muss sein, dass jeder von A nach B kommt. Manche in der Economy-Class, manche in der Business-Class. Wichtig ist, dass jeder zur selben Zeit mit dem gleichen Zug ankommt. Auf die Gesundheitsversorgung umgelegt, heißt das: Jeder muss die Behandlung bekommen, die medizinisch erforderlich ist. Medikamentenpreise sind immer wieder ein Thema.

STANDARD: Ist man auf Rabatte angewiesen?

Rabmer-Koller: Medikamente sind eine große Position in den Ausgaben, aber eben nur eine. Wir müssen an allen Rädern drehen, davon bin ich überzeugt. Wir sitzen mit der Pharmawirtschaft in einem Boot. Auf der einen Seite müssen wir gewährleisten, dass die Finanzierbarkeit langfristig gesichert ist, auf der anderen Seite aber auch dass die Versorgung mit innovativen Produkten möglich ist. Den angemessenen Preis für ein Medikament zu zahlen ist deshalb für uns wesentlich.

Hofmarcher: Ich bin nicht sehr glücklich mit den Pharmarabatten, für mich ist es eine Unart, wenn durch die Verhandlungen ein Naheverhältnis zwischen Vertretern der Pharmaindustrie und öffentlichen Behörden entsteht. Das ist intransparent.

Rabmer-Koller: Da widerspreche ich. Rabattverhandlungen sind auch in anderen Bereichen der Wirtschaft üblich. Wenn Sie den Rahmenpharmavertrag meinen, in dem ausgehandelt wurde, dass ein Betrag rückerstattet wird, dann ist das ein Kompromiss mit der Pharmawirtschaft, um die Kostenentwicklung in den Griff zu bekommen.

Hofmarcher: Als Krankenversicherung hat man der Industrie gegenüber eine starke Position, jene der Nachfragemacht sozusagen. Die Preisverhandlungen sollten transparent geführt werden. Das ist auch wichtig, weil ich davon überzeugt bin, dass bei innovativen Arzneimitteln ein wahrer Kostentsunami auf uns zurollt – weltweit. Das betrifft nicht nur die Medikamente, sondern auch die Medizinprodukte und die medizinischen IT-Dienstleistungen. Da brauchen wir adäquate Regulierungsinstrumente.

Rabmer-Koller: Umfassende Transparenz ist sicherlich wichtig, ebenso die Vorhersagbarkeit der Kosten, damit sie planbar werden. Es geht um die bestmögliche Versorgung von Patienten in Österreich zu angemessenen und leistbaren Preisen. Wir müssen wissen, was auf uns zukommt, dafür braucht es ein partnerschaftliches Miteinander.

STANDARD: Wo gibt es noch Einsparpotenzial?

Rabmer-Koller: Wir müssen in wirklich allen Bereichen Effizienzpotenziale heben und die Mittel dann zielgerichtet einsetzen. Da gibt es verschiedene Zugänge. Die Verhinderung von Sozialbetrug ist auch noch ein wichtiges Thema.

Hofmarcher: Meinen Sie Bauunternehmer, die durch gefinkelte Konstruktionen keine Sozialbeiträge für ihre Arbeiter zahlen?

Rabmer-Koller: Ich meine Sozialbetrug in sämtlichen Bereichen. Auch Krankenstandsmissbrauch ist in Österreich durchaus ein Problem. Darüber müssen wir offen und ohne Tabus reden können, um dann Maßnahmen zu setzen. Sozialbetrug darf in Österreich kein Kavaliersdelikt sein.

STANDARD: Welchen Stellenwert hat die Digitalisierung in diesem Prozess?

Rabmer-Koller: Digitalisierung ist die Zukunft, und da gilt es möglichst rasch die laufenden Projekte umzusetzen. Die Einführung der E-Card hat jahrelang gedauert, weil es Interessengemeinschaften gab, die dagegen opponiert haben. Ähnlich war es bei Elga und bei der E-Medikation. Dabei geht es vor allem um Patientensicherheit. Das nutzt Patienten ganz unmittelbar. Die E-Medikation ist ein Tool, mit dem es uns gelingt, gefährliche Wechselwirkungen zu verhindern und Mehrfachverschreibungen einzudämmen.

Hofmarcher: Stimmt, wir haben einen Riesennachholbedarf. Richtig genutzt steigern Elga und die E-Card die Patientensicherheit. Informationstechnologie ist ein Arbeitsmittel, das nicht nur die Versorgung verbessert, sondern auch die Effizienz fördert. So könnte es im Rahmen des Breitbandausbaus eine Strategie sein, an Schlüsselstellen im Gesundheitssystem Anreize für die Digitalisierung zu schaffen. Das nutzt allen, weil Arbeitsplätze geschaffen werden. Gesundheitssysteme sind immer auch ein Jobmotor.

Rabmer-Koller: Wir brauchen aber vor allem auch die Ärzte im Boot, Ärzte, die bereit sind, die digitalen Instrumente in ihre Behandlungskonzepte zu integrieren.

Hofmarcher: Das ist aber auch eine Generationenfrage, junge Ärzte sind aufgeschlossener als ältere.

Rabmer-Koller: Die Nutzung der digitalen Tools sollte aber keine Option sein.

Hofmarcher: Sie könnte ein verpflichtender Teil des Kassenvertrags werden. (Karin Pollack, CURE, 22.8.2016)