Veit Heinichen: "Die Zeitungsfrau. Commissario Laurenti in schlechter Gesellschaft." € 20,60 / 352 Seiten. Piper, München 2016

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Der neunte Roman der Proteo-Laurenti-Serie erscheint fünfzehn Jahre nach dem ersten. Der Triestiner Commissario ist sich treu geblieben. Seine Fähigkeit, den blutigen beruflichen Alltag mit den Genüssen der Küche und der Weingärten der ehemals habsburgischen Hafenstadt zu vereinen, sichert weiterhin seine besondere Stellung in der immer umfangreicheren stadtbezogenen europäischen Krimiliteratur. Mehr denn je ist Walters Gran Malabar an der Piazza San Giovanni das Zentrum von Laurentis Leben – hier findet er zwischen einem Espresso oder einem Glas Vitovska (meist vom Starwinzer Edi Kante) und diskreten Hinweisen aus sehr unterschiedlichen Milieus seine Balance. Aber er ist auch härter geworden, kritischer und sogar zynischer.

Das hat damit zu tun, dass ihn sein Schöpfer Veit Heinichen zunehmend in größeren, meist europäischen Zusammenhängen platziert, die ihn grundlegende systemische Mängel erkennen lassen, gegenüber denen er sich machtlos fühlt, auch wenn er kaum etwas von seiner Kampfeslust verloren hat. Die "Asylsuchenden mit ihren leeren Blicken und einem ihm fremden Maß an Geduld" sind der allgegenwärtige Hintergrund einer "gelangweilten Wohlstandsgesellschaft."

Wenn die "multinationalen Großkonzerne mit unbeschränktem Geschäftsfeld" agieren, während gleichzeitig immer mehr "Regelungen, Normierungen und Handelsabkommen zum Nachteil kleinerer mittelständischer Unternehmen geschaffen werden", ändert sich auch der Stellenwert des Einzelkriminellen. Proteo befindet sich gar nicht in so schlechter Gesellschaft; vielmehr entwickelt er – und mit ihm der Leser – deutliche Sympathien für Menschen, die am Rande des offiziell Erlaubten agieren. Dabei hilft es natürlich, dass die Zeitungsfrau des Titels, Teresa bzw. "Tessi", eine höchst attraktive, wohlausgestattete Spätvierzigerin ist, an der der Commissario sein gut ausgeprägtes Helfersyndrom üben kann.

In diesem Laurenti geht es um Kunstraub. Vor fast einem Vierteljahrhundert zwang ein korrupter Maresciallo der Finanzpolizei einen gut aussehenden argentinischen Flüchtling, in den sich die halbe – nämlich weibliche – Stadt verliebt hatte, für ihn Raubzüge zu unternehmen. Bei seinen Einbrüchen bewies Diego Colombo genialisch-künstlerische Züge, von denen man noch Jahrzehnte später spricht. Als es in der Stadt zu neuen Vorfällen dieser Sorte kommt, die deutlich an den Meister erinnern, fühlt man "Diegos Geruch in allen Straßen und Winkeln der Stadt."

Der Verdacht kommt auf, er sei vielleicht gar nicht bei einem Sprengstoffanschlag umgekommen, sondern lebe vielleicht unter falscher Identität weiterhin in der Stadt. Sind die drei Kinder seiner Witwe Teresa etwa alle von ihm und treffen sich die beiden weiterhin regelmäßig? Das verwirrende Labyrinth von Spuren, Vermutungen und paranoider Wünsche wird nie ganz aufgelöst, dafür aber wird die bodenlose Ausbeutung der Menschen, die bis ins Altersheim und selbst in die Särge reicht, umso deutlicher.

Heinichen ist und bleibt der Fellini des Kriminalromans. Figuren wie Tessi ("Großer Busen, schmale Taille, dicker Hintern. Alles von Mamma. Ich muss sie nur füttern") oder der korrupte Maresciallo La Rosa, der nach einem Unfall mit überhöhter Geschwindigkeit lebensgefährdend mit dem Rollstuhl durchs Altersheim und die Straßen Triests rast und dabei wild seine Urinflasche schwenkt, ja selbst ein kleiner weißer Malteser namens Gulasch (!), der an allen Ecken und Bäumen Triests seine Duftmarken hinterlässt, führen ein exzentrisches, durchaus filmisches Eigenleben. Wie viele frühere Figuren Heinichens werden sie dem Leser lange Zeit im Kopf bleiben.

Allzu viel Hoffnung darf jedoch nicht aufkommen. Zwar präsentiert dieses Buch Triest wiederum als eine Art Gesamtkunstwerk, dieses steht jedoch in strengem Gegensatz zur extrem kommodifizierten Welt der hier präsentierten Kunst. Insbesondere drei Bilder alter Meister, von Andrea Mantegna, Daniele Crespi und Tintoretto, hätten Anlass für Reflexionen über künstlerische Traditionen des Landes sein können. Davon ist jedoch weit und breit keine Spur. Weder die Kunsträuber noch deren Auftraggeber haben auch nur einen Funken Interesse an den Waren, mit denen sie handeln. Sackweise werden Wohnungen ausgeräumt, deren Inventare ganze kulturelle Epochen repräsentieren.

Gelagert wird das Diebesgut unsachgemäß in einem Depot einer Tarnfirma mit montenegrinischer Adresse namens GelFish im alten Hafen. Aber auch bei regulären Abwicklungen wertvoller Nachlässe handelt es sich um Verbrechen – gegen die kulturelle Tradition der Stadt und des Landes. Wohnungen mit einem "unglaublichen Schatz an Möbeln, Bildern, Familiensilber" werden ohne Verständnis aufgelöst: "Während der Erblasser im Altersheim vor sich hindämmert", bereiten sich die Erben darauf vor, "sein Hab und Gut auf dem schnellsten Weg zu versilbern, kaum dass er seinen letzten Atemzug getan hat."

Bei einem der genannten Raubkunstwerke hat sich Heinichen einen besonderen Spaß erlaubt. Mantegnas Madonna della Vittoria wurde tatsächlich geraubt – allerdings schon von Napoleon. Es befindet sich seit Beginn des 19. Jahrhunderts im Louvre. Seine Größe (2,80x1,66m) machte eine Rückgabe angeblich schwierig. Bei Heinichen findet sich das Bild im Wohnwagen eines fast sympathischen jugendlichen Räubers.

Heinichens neuer Laurenti erscheint mitten im Sommer – zu empfehlen für Triest-Reisende und solche, die es nach der Lektüre sein werden; Kunstexperten und solche, die den Kunstmarkt absurd finden; ganz besonders aber für Liebhaber fiktionaler Kulinarik, für die viele Seiten des Romans literarisch-gustatorische Synästhesien von Fisch, Pasta, Wein und Triestiner Kaffee auslösen werden. (Walter Grünzweig, Album, 17.8.2016)