Es stellt sich die Frage, welche verborgenen Ängste dazu führen, dass die Leute in den urbanen Zentren heute statt des "I love NY"-Shirts lieber textile Bekenntnisse zu ihrer direkten Lebensumgebung tragen.

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Als Milton Glaser in einer dunklen Nacht im Jahr 1977 in ein gelbes Taxi stieg, hätte er dem Fahrer auch zurufen können: "Bringen Sie mich nur weg von hier. Überall ist es besser als hier." Jeder hätte das verstanden. New York City war damals so gut wie bankrott, die Mordrate unfassbar hoch, die Innenstadt verwahrlost. "Ein düsterer Ort. So viel Kriminalität. Wirtschaftliche Probleme. Die Leute hatten Angst, auf der Straße zu gehen", erinnerte sich Glaser kürzlich in einem Interview mit der New York Times. Aber der Grafikdesigner, 1929 in der Bronx geboren, floh nicht aus seiner Stadt, sondern entwarf in dieser Nacht auf der verdreckten Taxirückbank einen Slogan, der das Schicksal der Metropole verändern sollte: "I love NY"

Ein minimalistisches Kunstwerk. Ein Bekenntnis zur eigenen Herkunft. Eine Liebeserklärung an eine Stadt, die in Flammen stand. Die "I love NY"-Kampagne, für die Glaser nur 2000 Dollar Honorar erhielt, eroberte die Welt und wird 40 Jahre später immer noch kopiert. "Die Gegenüberstellung der nackten Buchstaben mit dem weichen Herzen fing die Härte und Verletzbarkeit von NYC ein", schreibt die Soziologin Miriam Greenberg von der University of California im Buch Branding New York: How a City in Crisis Was Sold to the World. "Ein Designer kann den Zeitgeist treffen, aber nur, wenn er die verborgenen Ängste der Gesellschaft versteht."

Stabilität, Bequemlichkeit und Überschaubarkeit

Da stellt sich die Frage, welche verborgenen Ängste eigentlich dazu führen, dass die Leute in den urbanen Zentren heute statt des blütenweißen "I love NY"-Shirts lieber textile Bekenntnisse zu ihrer direkten Lebensumgebung tragen: "100 % Meidlinger", "I love Ottakring" oder gleich eine Stadtkarte von Wien, in der das eigene Viertel rot markiert ist. Das New-York-Shirt wurde geliebt, weil es edgy war, 100 Prozent hinter einer Werbeanzeige zu stehen, aber auch, weil man sich so zu Werten wie Chaos, Vielfalt, Fernweh und Übermaß bekennen konnte. Im Jahr 2016 feiern die Leute nur noch die Stabilität, Bequemlichkeit und Überschaubarkeit ihres eigenen Kiezes. Kann man schön finden, wenn Leute ihren Lebensmittelpunkt schätzen – gleichzeitig erinnert das ungut an die großen politischen Formeln des Jahres: "Take your country back" (Brexit) bzw. "Make America great again" (Donald Trump) bzw. AfD /FPÖ. Das Nahe ist plötzlich wichtiger als die Ferne.

Der modische, moderne Lokalpatriotismus ist kein Wiener Phänomen, sondern findet sich in allen Großstädten. In Hamburg zum Beispiel steht in der Drogeriekette Budnikowsky oder im Edeka-Supermarkt ein ganzes Fanartikel-Sortiment in der Nähe der Kasse, Tassen, Shirts, Kugelschreiber und Kühlschrankaufkleber, bedruckt mit Ankern, der Hafen-Skyline und den Farben der Stadt. Am interessantesten an den Stadt-Fanartikeln ist jedoch, dass sie nicht am Jungfernstieg, an den Landungsbrücken oder anderen Touristenfallen verkauft werden, sondern im lokalen Drogerie- und Supermarkt, wo die Menschen einkaufen, die man nicht daran erinnern (franz.: se souvernir) muss, dass Hamburg lebenswert ist, weil sie da ja schon leben. In Wien will The Vienna Store in der Herrengasse laut Webseite explizit "auch Wienerinnen und Wienern die Gelegenheit bieten, authentische Wien-Andenken und schönes Design-to-take-away zu erwerben", also: Leberkäse-Schlüsselanhänger, Brotzeitdosen und andere Werkzeuge für das ach so wilde 21. Jahrhundert.

Und an jeder Ecke gibt es kleine Galerien, die lokale Ikonen verkaufen, Hafenkräne, Riesenräder, Kirchturmsilhouetten. Die Inszenierung ist so homogen, als würde ein Brandmanager der Tourismusbehörde darüber wachen: ein bisschen Gegenlicht, Instagram-Filter drüber, und fertig! Aber warum hängen sich Leute Bilder an die Wand, die sie auch beim Blick aus dem Fenster sehen könnten? Man versichert sich, dass man alles richtig machte, als man das Träumen einstellte und sich hier niederließ.

Zu Hause ist es am schönsten

Wobei: Die Leute sind ja gar keine Hamburger oder Berliner oder Wiener mehr, sondern angeblich Angehörige einer viel kleinteiligeren Stammesordnung, kommen aus Altona, der Schanze, St. Pauli oder irgendeinem Büttel, in Bayern bekennen sich die Leute analog zu urmünchnerischen Stadtteilen wie Sendling oder Giesing, in Wien ist die Nummer des Bezirks fast genauso wichtig wie das Geburtsdatum. "Wo wohnst du?" ist die wichtigste Smalltalk-Frage überhaupt. Die Antwort will geübt sein: Der Stadtteil als Mode-Item, das man sich nicht überzieht, sondern in das man hineinschlüpft. Die Hinwendung zum eigenen Hinterhof ist auch ein Phänomen der späten Hipster-Periode, dieser soziokulturellen Kleinkünstler, denen es immer, wie Mark Greif in seiner Monografie Hipster schreibt, "um Abgrenzung, Narzissmus und ein Gefühl der Überlegenheit geht". Eine Strategie der Hipster bestand darin, sich scheinbar überkommene bzw. unmögliche Mode-Statements anzueignen und umzuwerten. Was früher der Schnurrbart (Pornstache) und das feingerippte Unterhemd (Wifebeater) waren, ist heute der Lokalpatriotismus – die Provinzliebe als ultimative Provokation. Die Gentrifizierung der Gedankenwelt ist jedoch aus zwei Gründen bedenklich:

Erstens: Wie wir wissen, gefährdet man einen Ort durch nichts mehr als dadurch, ihn zu feiern. In ihrem Buch Mythos Kreuzberg schreibt Barbara Lang von der "maßgeblichen Teilhabe der Diskurse an der Materialisation von Stadträumen": Erst die symbolische Aufwertung und Mythenbildung "besonderer Orte" schaffe eine Grundlage für die "immobilienwirtschaftliche Verwertung und Kommodifizierung von Räumen".

Zweitens: Das Lustigste an der Verkitschung des direkten Lebensmittelpunkts ist aber, dass er in so vielen Städten auf so ähnliche Art und Weise abläuft. Ganz gleich, ob man in Hamburg, Berlin, München, Paris oder Portland lebt, überall besinnen sich die Menschen auf ihre ach so spezifische Hipster-Herkunft. Die Zutaten sind immer die gleichen: lokale Traditionen und mittelgelungenes Graphic Design. Durch das Betonen der eigenen lokalen Herkunft wird man als Mitglied einer globalen Community enttarnt.

Schuld an dem Schmarrn sind natürlich Internet und Globalisierung. Immer wenn es unübersichtlich und gefährlich wird, wenden sich die Menschen vertrauten Dingen, Sphären und Werten zu. Den meisten Applaus bekommt man bei WG-Feiern, Abendessen oder an der Bar derzeit, wenn man sich kritisch über TTIP und den internationalen Finanzkapitalismus äußert und fordert, dass sich "jetzt mal was ändern" müsse. Und weil man nach zwei Craft-Bieren (gebraut natürlich im Viertel), im internationalen Wirtschaftsrecht nicht mehr so recht durchblickt, setzt man halt nur auf "Produkte aus der Umgebung", "Farm to Table" und die ästhetische Glokalisierung. Das ist nicht falsch oder böse oder dumm, sondern ... langweilig und harmlos. Denn: Wohin genau wünscht man sich zurück? In die Jäger-Sammler-Gemeinschaft? "Die globalisierte Welt mit ihrer kosmopolitischen Durchlässigkeit von Menschen und Waren ist historisch gesehen keine Ausnahme, sondern die Regel", schreibt der Archäologe und Anthropologe Eric H. Cline in seinem Buch 1177 BC The Year Civilization Collapsed, "die abgeschottete, angeblich einzigartige Nation dagegen ist ein absoluter Newcomer." In dem Buch steht auch, dass Hammurabi, ein babylonischer König des 2. Jahrtausends vor Christus, seine Sandalen auf Kreta fertigen ließ.

Dass internationaler Handel und die Erkundung der Ferne positive Faktoren sein könnten, kommt den meisten nicht mehr in den Sinn. Im 18. Jahrhundert schrieb Montesquieu, dass Warenaustausch "zerstörerische Vorurteile" heile und die "Kommunikation unter den Menschen" fördere. Voltaire schwärmte in seinem Gedicht Le Mondain: "Das Überflüssige, nicht zu entbehren / Verbindet jetzt die beiden Hemisphären. / Unzählige schnelle Schiffe seht ihr froh / Von Texel abgehn, London und Bordeaux / Um Güter, die von Ganges' Ursprung kommen, Günstig für uns ertauscht, indes die Frommen / Des Mohammed von Frankreichs Wein besiegt."

Donald Trump wird seine Mauer an der Grenze zu Mexiko nie errichten. Aber in unseren Köpfen haben die Bauarbeiten längst begonnen: "Zu Hause ist es doch am schönsten", "Hauptsache es schmeckt". Da erscheint es fast heilsam, dass der Suhrkamp-Verlag Ende des Jahres einen neuen Thomas-Bernhard-Band herausgeben wird, Düsseldorf oder München oder Hamburg: lauter Provinzen, Untertitel: Städtebeschimpfungen: "Salzburg, Augsburg, Regensburg, Würzburg, ich hasse sie alle, weil in ihnen jahrhundertelang der Stumpfsinn warmgestellt ist." Übrigens, Trier: "Man geht nicht ungestraft nach Trier / man geht nach Trier und macht sich lächerlich." (Tobias Moorstedt, Album 13.8.2016)