Österreichs Außenminister Sebastian Kurz und der türkische Präsident Tayyip Erdogan vor zwei Jahren in Wien: Geredet soll weiterhin werden, aber nicht mehr über einen EU-Beitritt der Türkei.

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Wien – Es war ein Appell an den kühlen Kopf in einer heißen Debatte. "Wir müssen rhetorisch abrüsten", mahnte Othmar Karas, ÖVP-Delegationschef im Europaparlament, in einem Interview in der "ZiB 2" des ORF. Die Brücken zur Türkei dürften nicht abgebrochen werden, schließlich sei die EU das einzige Korrektiv, dass der immer autokratischer regierende Präsident Tayyip Erdogan noch habe: "Ich fordere daher alle Teile auf, nicht eine Provokation mit einer Provokation zu beantworten."

Die Adressaten seiner Kritik nannte Karas nicht beim Namen, doch wer gemeint war, liegt auf der Hand. Angesprochen fühlen darf sich Österreichs Regierung, die sich im europäischen Kreis mit einer besonders harten Haltung gegenüber der Türkei hervortut. Bundeskanzler Christian Kern (SPÖ) plädiert für einen Abbruch der Verhandlungen über einen EU-Beitritt, Sebastian Kurz (ÖVP) kündigte ein "Veto" gegen die Eröffnung weiterer Verhandlungskapitel an – und erklärte gleich auch das gemeinsame Flüchtlingsabkommen für unhaltbar.

Das stößt nicht nur Karas sauer auf. Für "völlig unnötig" hält Otmar Höll, Experte für internationale Politik, die markigen Ansagen. Natürlich seien die Angriffe auf Rechtsstaat und Opposition in der Türkei inakzeptabel, doch angesichts dieser Entwicklungen fahre die EU-Kommission die Verhandlungen ohnehin automatisch herunter, sodass ein Beitritt der Türkei nicht absehbar sei. Heimische Politiker sollten die Stimmung nicht extra anheizen, sagt Höll: Wer mit einem endgültigen Abbruch oder einem Veto, wie es eine einzelne Regierung gar nicht in der Hand habe, drohe, mache "die Gräben nur noch tiefer"und breche Brücken auch zu jenen ab, die in der gespaltenen türkischen Gesellschaft gegen Erdogan sind – das gelte auch für die in Österreich lebende Community.

"Wenn Verhandlungen auf Eis liegen, muss man nicht auch noch die Kühlschranktür zuschlagen", sagt Peter Filzmaier, ein anderer renommierter Politologe, der Kerns und Kurz' Vorstöße für umso bemerkenswerter hält, als sich Österreich immer noch neutral nennt: "Von jeder diplomatischen Akademie fliegt man für so etwas im ersten Semester raus."

Strategische Binsenweisheit

Filzmaier vermutet innenpolitische Motive hinter dem außenpolitischen Schauspiel. "Es ist eine strategische Binsenweisheit, dass sich innere Einheit am besten gegen einen – unter Anführungszeichen – Außenfeind schaffen lässt," sagt er, "und so viele andere Themen, bei denen sich die Regierung einig ist, gibt es nicht." Die Türkei-Debatte sei "aufgelegt wie auf dem Silbertablett", befindet Filzmaier, zumal sie für die Regierung weitgehend "risikolos" sei. Schließt sich die EU, wo letztlich die relevanten Entscheidungen fallen, mehrheitlich der Haltung Österreichs an, könnten sich Kern und Kurz eines Erfolges rühmen. Wenn nicht, so Filzmaier, lasse sich immer noch mit EU-Bashing Kapital schlagen.

Was die Regierung kurzfristig bereits erreicht hat: Raum in den Medien, den angesichts des Themas sonst möglicherweise die FPÖ okkupiert hätte. Koalitionspolitiker werden die Schlagzeile der "Kronen Zeitung" vom Sonntag mit Genugtuung gelesen haben. "Regierung lässt FPÖ wenig Luft", hatte das Boulevardblatt getitelt.

Politologe Höll erkennt in der aktuellen Episode ein Muster der heimischen Außenpolitik. Gehe es um positive Anliegen, die am Ende noch Geld kosten, zeige die Regierung "wenig Aktivität", sagt er – ein treffendes Beispiel sei die Entwicklungspolitik. Stärke demonstriere sie dann, wenn eine innenpolitische Rendite zu erwarten sei, so wie seit Jahren schon im Streit um den Türkei-Beitritt. Immer nur seine Gegenposition zu deponieren sei aber keine konstruktive Politik, sagt Höll: "Wenn, dann müsste Österreich versuchen, Allianzen mit anderen EU-Staaten zu schließen."

Dänen für Verhandlungsstopp

Auch Kern und Kurz übten sich in Alleingängen, am Dienstag stellte sich jedoch nachträglich ein Mitstreiter ein. Die regierende Liberale Partei Dänemark schloss sich der Meinung der Österreicher an. Die "rote Linie" sei überschritten, sagt der außenpolitische Sprecher Michael Aastrup Jensen, die Türkei erfülle nicht die demokratischen Mindeststandards, um Beitrittsanwärterin zu sein. Die Verhandlungen sollten nicht nur unterbrochen, sondern gestoppt werden, fordert Jensen: "Die Türkei muss von der Liste der Kandidaten gestrichen werden."

Außenminister Kurz wird das freuen, er bleibt trotz Karas' Widerspruch bei seiner Linie. Knapper Kommentar aus seinem Büro: Die Kritik sei zur Kenntnis zu nehmen, doch die Haltung des Ministers klar. Lob für seine "abgewogene Stellungnahme" bekam Karas via Twitter dafür vom SPÖ-Kollegen Eugen Freund, Kritik an Kanzler Kern lässt sich der EU-Mandatar aber keine abringen. Eine Debatte über das Ende der Beitrittsgespräche sei legitim, sagt Freund, "solange der Gesprächsfaden mit der Türkei erhalten bleib.". (Gerald John, 10.8.2016)