Im digitalen Zeitalter scheint kein Stein auf dem anderen zu bleiben. Selbst bei Strom könnten Produzenten und Konsumenten bald direkt zueinanderfinden, ohne Energieversorger dazwischen.

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Wien – Als ob die Stromwirtschaft nicht schon genug durcheinandergerüttelt würde; nun droht den Energieversorgern nichts weniger als der finale Abgesang. Wenn das Beispiel aus New York Schule macht, braucht es höchstens noch Netze, aber keinen Stromhändler und niemanden, der den Strom abliest, Rechnung legt, einkassiert.

In New York läuft im Stadtteil Brooklyn seit April ein Feldversuch, an dem zehn Haushalte teilnehmen. Bürger auf der einen Seite der Straße versorgen Bürger auf der anderen Seite mit selbsterzeugtem Solarstrom. Das wäre an sich noch nichts Besonderes.

Pilotprojekt in Brooklyn

Neu an dem Brooklyn Microgrid ist, dass die beteiligten Haushalte auch die Abrechnung und die Bezahlung untereinander abwickeln, ohne dass ein Energieversorger dazwischengeschaltet wäre. "Der Mechanismus zeigt, wie die Zukunft eines dezentralen, in Nachbarschaften selbstverwalteten Stromnetzes aussehen könnte", analysiert die Beratungsgesellschaft PwC.

Was die Berater so trocken hinschreiben, lässt bei Stromversorgern die Alarmglocken schrillen. Wer braucht ihre Dienste noch, wenn Erzeuger und Verbraucher im digitalisierten Strommarkt Geschäfte dezentral untereinander anbahnen und abwickeln?

Auf den Kopf stellen

"Jeder Energieversorger muss für sich entscheiden, was er macht", sagte Axel von Perfall, bei PwC für die Studie "Blockchain – Chance für Energieverbraucher" verantwortlich, dem STANDARD. "Die Energiewirtschaft sollte das Thema Blockchain eng weiterverfolgen, weil das durchaus Potenzial hat, die Branche komplett auf den Kopf zu stellen."

Nutznießer seien jedenfalls die Kunden, geht aus der für die Verbraucherzentrale Nordrhein-Westfalen gemachten Studie hervor. "Weil die Systemkosten sinken", argumentiert von Perfall. Produzenten und Konsumenten könnten ihre Geschäfte direkt abwickeln, ohne Stromhändler dazwischen, ohne Banken."

Viele Fragen offen

"Jeder beschäftigt sich auf irgendeine Weise mit dem Thema. Spruchreife Strategien liegen noch nicht vor", sagte Ernst Brandstetter, Sprecher von Österreichs Energie. Viele Fragen seien noch offen. Auch gesetzlich müsse nachgebessert werden. Brandstetter: "Das alles passt nicht in den vorhandenen gesetzlichen Rahmen." Und man müsse sich fragen, auf welcher Basis Netzkosten oder Ökostromumlage künftig finanziert werden, wenn die Zahl der Zahler kleiner werde.

Die erste größere Anwendung der Blockchain-Technologie (siehe Wissen) gab es in der Finanzindustrie – mit der Digitalwährung Bitcoin. Weil Banken als Organisatoren des Zahlungsverkehrs künftig überflüssig werden könnten, arbeiten inzwischen viele an eigenen Anwendungen. "Es gibt eine Reihe von Pilotprojekten, wo diese Technologie in der Praxis erprobt wird. Und monatlich werden es mehr", sagte PwC-Mann Axel von Perfall.

RWE und Vattenfall mit Pioniergeist

Auch in der Energiewirtschaft sind erste Unternehmen dabei, die Möglichkeiten von Blockchain auszuloten. Dazu gehören in Deutschland Vattenfall und RWE. Letztere kooperieren mit dem sächsischen Start-up Slock.it. Dabei geht es um ein vollautomatisiertes Bezahlmodell für das Laden von Elektroautos.

Auch wenn Blockchain im Energiebereich noch in den Kinderschuhen stecke – die Entwicklung könnte rasant voranschreiten. "Ich glaube, dass wir in Österreich 2017 erste größere Projekte sehen werden und in drei bis fünf Jahren schon ein gewisser Reifegrad erreicht sein wird", sagte Thomas Hillebrand von PwC-Österreich. Energieversorger müssten sich umstellen, wollten sie Oberwasser behalten. "Mit ihrem Know-how, der immer noch vergleichsweise großen finanziellen Power und Reichweite können sie durchaus relevante Partner dieser jungen, dynamischen Unternehmen sein, die die Entwicklung vorantreiben", sagte Hillebrand. (Günther Strobl, 8.8.2016)