Knick in der Geschichte: Christ & Gantenbein schufen ein Bauwerk, das genug Schwere und Trotzigkeit hat, um gegen die jahrhundertealten Kunstwerke zu bestehen. Hier ist eine Renaissance-Votivtafel von 1511. "Alles andere wäre kleingeistig gewesen", sagt Chefkuratorin Amrein.

Foto: Wojciech Czaja

Nackte Betonwände. Alles ist kühl und grau. Fast so, als hätte das Museum alle Farbnuancen, alles Prächtige zwischen Gelb und Violett, aufgesaugt wie ein schwarzes Loch. Doch plötzlich hängt ein Renaissancebild an der Wand, eine Votivtafel von Paul Lautensack dem Älteren. Es zeigt ein Schiff in Seenot, dramatisches Gewitter, ein Christuskind über dem Wolkenband. Die Farben leuchten kräftig und lebendig in den Raum hinein.

"Man würde vermuten, dass Beton und kunsthistorische Artefakte nicht wirklich gut zusammengehen", sagt Heidi Amrein, Chefkuratorin im Schweizerischen Nationalmuseum in Zürich. "Aber das Gegenteil ist der Fall. Die massiven Betonwände mit ihren sprechenden Schatten und Spuren der Holzverschalung sind ein wunderbarer Untergrund für unsere Exponate. Eine kühle, minimalistische White Box, wie sich das manche gewünscht hätten, wäre an dieser Stelle absolut kleingeistig und popelig gewesen."

Foto: Roman Keller

Nur wenige Meter weiter stehen auf einem Sockel, hoch über den Köpfen der Besucher, der geflügelte Merkur von Giambologna aus dem Jahr 1600 sowie eine mehr als 500 Jahre alte Madonna mit Kind. Über den zarten Konturen der beiden Statuetten offenbaren sich Blicke auf Lüftungskanäle, Klimageräte, Kabeltassen, Scheinwerfer und adamskostümierte Sprinkler.

"Der Verlauf der Geschichte ist nie etwas Lineares", sagt Architekt Emanuel Christ. "Und Evolution konnte immer auch deshalb nur stattfinden, weil man das gestern Gemachte zwar als Vorbild hergenommen, damit aber irgendwie auch ziemlich brutal umgegangen ist. Sonst hätte sich wohl nie etwas geändert auf dieser Welt. So gesehen fügen wir uns ganz bewusst und wahnsinnig gerne in die Tradition des geschichtlichen Verlaufs."

Fast 15 Jahre hatte die launische Entstehungsgeschichte dieses Hauses gedauert. Vergangenen Montag schließlich, rechtzeitig zum Schweizer Nationalfeiertag, konnte der 7000 Quadratmeter große Zubau von Christ & Gantenbein Architekten feierlich eröffnet werden. 23.000 Besucher folgten der Einladung, das expressionistische Betonwesen mit seinen mehr als 80 Zentimeter dicken Wänden erstmals zu betreten.

Als Bundesrat, Direktor, Architekten und Kuratorinnen immer wieder von "emotionalen Momenten" sprachen und einander – ganz in eidgenössischer Manier – mit Dank und Wertschätzung überboten, schien der Horror der Genese längst vergessen und verdrängt. Dem 2001 ausgeschriebenen, europaweiten Wettbewerb nämlich, aus dem das damals noch blutjunge Baseler Büro Christ & Gantenbein als Sieger hervorgegangen war, folgte ein jahrelanger Kampf mit Finanzkrise, Volksentscheiden und bundesgerichtlichen Prozessen.

Betoncocktail mit Tuff

"Ein Nationalmuseum ist kein Klacks", erinnert sich Architekt Christ. "Plötzlich steht man mitten in Zürich, sieht sein eigenes Porträtfoto auf Plakaten und merkt, dass man zum politischen Thema geworden ist." Am Ende ließ man gar die Zürcher Stadtbevölkerung entscheiden, ob die Stadt die Kredite für den geplanten Zubau aufnehmen solle oder nicht. Die Antwort steht nun, unübersehbar, an der Rückseite des 1898 von Gustav Gull errichteten Altbaus zwischen Platzspitzpark und den beiden Flüssen Limmat und Sihl.

Wie eine Trutzburg aus Beton blickt das graubraune Betongebilde hinter den dicht gewachsenen Baumgruppen hervor. Die Farbe der mit Wasserstrahl gestockten Oberfläche ergibt sich aus der besonderen Betonmischung. Die Rezeptur orientiert sich an den beiden Materialien, mit denen auch das Gull-Haus vor mehr als 100 Jahren erbaut wurde: Kalkstein und Tuff. Ein ganzes Jahr lang dauerten die Experimente und Tests mit dem Tuffstein, der noch nie zuvor in einem Betoncocktail verwendet wurde.

Foto: Roman Keller

Doch dann, kaum ist man ein paar Schritte gegangen, verändert sich die Perspektive des eben noch schweren Baus. Als hätte das Christuskind aus dem Renaissancebild, hoch oben in den Wolken sitzend, das Bauwerk an einem durchsichtigen Faden nach oben gezogen, löst sich das Museum scheinbar schwerelos vom Boden. Unter dem zehn Meter hohen Knick ergibt sich ein gedeckter Freiplatz mit Durchblicken und öffentlichen Spazierwegen.

"Die Kontur des Hauses ist eine Fortführung all der Erker, Türme und wild verschachtelten Giebel des historistischen Gull-Baus", erklärt Projektleitern Mona Farag. "Das ist zwar eine sehr freie Interpretation, aber dennoch entsteht so etwas wie ein Dialog aus Alt und Neu." Leicht zu bewerkstelligen war dieser Gesprächsaufbau aber nicht. Im Fundament des Hauses, das als räumliches Tragwerk konzipiert ist, verlaufen hunderte Stahlseile, die das flache Dreieck zusammenziehen. "Ansonsten würde der geknickte Betonbogen wie bei einer Grätsche in sich zusammensacken."

Geheizt wird mit Fernwärme, gekühlt mit dem Wasser aus den beiden benachbarten Flüssen. Der Lichteintrag wird gering gehalten. Bloß ein paar runde Bullaugen, die mittels Kernbohrung in die Wand hineingefräst wurden, geben den Besucherinnen und Besuchern ab und zu Orientierung und Ausblick in Park, ohne dass dabei allzu viel Tageslicht auf die meist sehr sensiblen Exponate fällt.

Antwort auf die Geschichte

Dank den ökologischen und emissionsfreien Materialien, die hier zum Einsatz kamen, erreicht das Museum den Öko-Standard Minergie-P-Eco, was in Österreich in etwa einem guten Passivhaus mit Klima-aktiv-Zertifikat entsprechen würde. 111 Millionen Schweizer Franken (rund 103 Millionen Euro) ließ man sich den Neubau mit Ausstellungsflächen, Bibliothek und generalsaniertem, historischem Foyer kosten.

"Doch das Wichtigste ist die Funktionalität dieses Hauses", sagt Chefkuratorin Amrein. "Wir wollten eine flexible, frei bespielbare Halle, und die haben wir bekommen. Dass sie nicht so ausschaut wie eine Kiste und wie wir uns das halt so vorstellen, ist der Fähigkeit der Architekten zu verdanken, die es geschafft haben, die Geschichte zu verstehen und darauf eine Antwort zu geben." Bis zu zwei Tonnen schwere Exponate können von der Decke abgehängt werden. Immer wieder blitzt eine Zeichnung oder ein Gemälde auf, das per Licht an die nackte Betonwand projiziert wird.

Frage an den Architekten: Wäre so ein Bau auch in einem anderen Land möglich? "Nein, wahrscheinlich nicht. Ich denke schon, dass wir Schweizer eine gewisse Auftraggeber- und Bestellqualität haben, dass wir wissen, was wir wollen, und dass wir auch wissen, dass das, was wir wollen, einen Preis hat." 111 Millionen Franken seien zwar viel Geld, aber auf vielleicht 100, 200, 300 Jahre aufgeteilt, so Christ, vielleicht auch wieder nicht.

"Wissen Sie, wir leben in einer Zeit und in einer Gesellschaft, die von kommerziellen Investoren beherrscht und von einer Scheiß-Wegwerfmentalität geprägt ist. Dagegen wollen wir ankämpfen." Das Renaissance-Votivbild mit dem Christuskind über den Wolken stammt aus dem Jahr 1511. Es zeigt ein Schiff in Seenot, knapp vor dem Untergang des Abendlandes. (Wojciech Czaja, Album, 6.8.2016)