Der größte Fanklub im Land: Erdoğan-Schals zum Umhängen werden in Istanbul feilgeboten. Für Sonntag hat der Staatschef zu einer Großkundgebung nach dem gescheiterten Putsch geladen.

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Ankara/Wien – Bis vor zwei Wochen haben sie nicht einmal miteinander gesprochen. Die Kunst, sich bei öffentlichen Anlässen die Hand zu geben und dabei aneinander vorbeizuschauen, beherrschten Tayyip Erdogan und Kemal Kiliçdaroglu perfekt.

Doch seit dem gescheiterten Putsch, der das Land in seinen Grundfesten erschüttert hat, scheint alles anders. Der Sozialdemokrat Kiliçdaroglu fuhr erstmals zu Erdogans Protz-Palast in Ankara, der Staatschef zog wiederum alle Beleidigungsklagen zurück, die er gegen den Oppositionsführer angestrengt hatte. Und nun hat Erdogan den Vorsitzenden der Republikanischen Volkspartei gar zur Großkundgebung am Sonntag nach Istanbul eingeladen; zum "Demokratiefest", zu dem wohl mehrere Hunderttausend Erdogan-Anhänger gebracht werden.

"Botschaft der Einigkeit"

"Ich möchte gern, dass Herr Kiliçdaroglu auch dabei ist", sagte Erdogan am Donnerstag in einer Rede im Präsidentenpalast und nannte den Oppositionsführer sogar beim Namen. Eine Botschaft der Einigkeit solle dem Volk gegeben werden. Für die Türkei ist das ein Novum.

In den bisher 14 Jahren türkischer Alleinregierung der konservativ-religiösen AKP war kein Platz für Konsens und Kompromiss. Die Geschlossenheit der Parteien gegen die Putschisten in der Nacht des 15. Juli, die Bombardierung des Parlaments, die Abgeordnete aller Fraktionen gemeinsam erlebten, haben das innenpolitische Klima zumindest vorübergehend entspannt – trotz Ausnahmezustand und Massenfestnahmen. Denn die Opposition, allen voran die Sozialdemokraten, hatten schon seit Jahren die Unterwanderung des Staates durch die Bewegung des Predigers Fethullah Gülen angeprangert. Er wird nun für den Putsch verantwortlich gemacht. "Unsere Freunde haben uns gewarnt, doch wir haben nicht zugehört", erklärte Justizminister Bekir Bozdag, der Opposition zugewandt, dieser Tage zur allgemeinen Verblüffung im Parlament.

CHP will erst beraten

Von Devlet Bahçeli, dem Führer der rechtsgerichteten Nationalisten, hat Erdogan bereits eine Zusage erhalten. Bahçelis MHP steht Erdogans Partei politisch ohnehin näher, im Gegensatz zu den säkularen Sozialdemokraten der CHP. Kiliçdaroglu ließ wissen, dass er über Erdogans Einladung mit seinen Parteifreunden beraten wolle. Die Sozialdemokraten organisierten ihrerseits am Donnerstag eine Demokratie-Kundgebung in Izmir, einer der letzten Hochburgen der Partei.

Über Erdogans Absichten macht sich die türkische Opposition keine Illusionen. Sie sieht den Ein-Mann-Staat kommen, gestützt auf die weiten Kompetenzen, die der Ausnahmezustand nun dem Staatspräsidenten gibt. Um so mehr drängt Kiliçdaroglu auf die "volle Demokratie", die Bewahrung des Parlamentarismus, der eigentlich in der türkischen Verfassung festgeschrieben ist. Die sei die Bedingung für eine Zusammenarbeit mit Erdogan bei der Reform des Staates nach dem Putsch, sagte der Chef der Sozialdemokraten nun in einem Interview mit Bir Gün, einer kleinen linksstehenden, regierungskritischen Tageszeitung, die noch erscheinen darf.

Aggressiv gegen den Westen

Erdogans ungewohnte Freundlichkeit gegenüber der Opposition – die prokurdische Minderheitenpartei HDP ist davon freilich ausgenommen – folgt den zunehmend aggressiven Tönen des türkischen Staatschefs gegen das westliche Ausland.

"Der Westen unterstützt den Terrorismus und steht auf der Seite von Putschisten", erklärte Erdogan in einer Rede vor Investoren. Täglich breiten die Regierungsmedien ihre Verschwörungstheorien über Barack Obama und die amerikanischen Generäle aus, die Hand in Hand mit Gülen den Umsturz in der Türkei geplant hätten.

Mit den Oppositionsführern an seiner Seite will Erdogan nun offenbar Einigkeit gegenüber den USA und Europa demonstrieren. Die Kritik der EU-Staaten an den Säuberungswellen in der Türkei macht Erdogan wütend. Der Westen habe den Putsch und die Gefährlichkeit des Gülen-Netzwerks nicht verstanden, lautet sein Vorwurf. Die Jagd auf angebliche Unterstützer des Predigers hat dabei mittlerweile sogar das Städtische Theater in Istanbul erreicht, wo neben anderen ein bekannter Regisseur entlassen wurde. Gegen Gülen erließ ein Istanbuler Gericht nun offiziell Haftbefehl. (Markus Bernath, 4.8.2016)