Rechts neben der Tür ist eine Waffe zu erkennen – das beunruhigte zahlreiche Fans

Foto: Screenshot/YouTube

In den vergangenen zwei Wochen avancierten tausende Jugendliche plötzlich zu Hobbydetektiven, die um das Leben von Youtube-Star Marina Joyce fürchteten. Wilde Gerüchte über Joyce kursierten, sogar die britische Polizei nahm sich der Causa an. Der Hashtag #SaveMarinaJoyce schaffte es, die weltweiten Twitter-Trends zu dominieren. Laut "Guardian" gaben unzählige Fans an, wegen ihrer Sorge um Joyce nicht mehr schlafen zu können, dutzende sollen Panikattacken erlitten haben. Ein exemplarischer Fall von Massenhysterie im Zeitalter der digitalen Medien.

"Veränderte Persönlichkeit"

Seinen Ursprung nahm das Drama mit zwei Videos des Youtube-Stars, in denen Fans Joyce plötzlich eine "veränderte Persönlichkeit" und einen "hohen Stresslevel" attestierten. Joyce hatte zu diesem Zeitpunkt rund 600.000 Fans auf Youtube, die 19-jährige Britin war mit Schminktipps populär geworden. Tatsächlich legte Joyce bei den zwei Clips einen anderen Ton als in den Videos zuvor an den Tag: Sie war etwas weniger aufgedreht und wirkte leicht abwesend. Zwei Zustände, die wohl jedem bekannt sein dürften. Joyces Fans begannen aber, die Videos nach anderen Indizien für eine Notsituation ihres Stars abzusuchen.

Blaue Flecken und Schusswaffen

Sie wurden fündig: In einem Video sieht man, dass Joyce auf der Rückseite ihrer Arme ein paar blaue Flecken hat. Im Hintergrund der Aufnahme ist außerdem eine Waffe zu sehen. Dann bat ein User laut "Guardian" die anderen Fans, den Ton des Videos lauter zu stellen und bei Sekunde 13 genau hinzuhören: Da sei klar zu hören, dass Joyce "Help me" ("Helft mir") flüstere, vermutete der Nutzer – und mit ihm bald zig andere. Besorgte Hobbydetektive begannen, auf PasteBin Dokumente mit Indizien für Joyces Entführung zu sammeln. Sie ersonnen die Theorie, dass der YouTube-Star von ihrem Freund oder einem fremden "Sexmonster" entführt und verprügelt werde.

Marina Joyce

Lockvogel für IS-Anschlag?

Um die Lage zu beruhigen, schlug Joyce vor, sich mit ihren Fans in der Londoner Innenstadt zu treffen. Das brachte die Hysterie aber erst recht zum Köcheln. Denn nun verbreiteten Nutzer das Gerücht, Joyce wäre von der Terrormiliz IS entführt worden.

Das arrangierte Treffen diene dazu, möglichst viele Menschen an einem Platz zu versammeln, an dem dann ein Anschlag stattfinden solle. Das rief sogar die britische Polizei auf den Plan: Sie besuchte Joyce daheim und twitterte anschließend, dass sich ihre Fans keine Sorgen machen müssten.

Für all die vermeintlich merkwürdigen "Hinweise" auf Joyces Notsituation gebe es logische Erklärungen: Die Youtuberin habe sich bei der Aufnahme der Videos einfach etwas müde gefühlt. Die blauen Flecken seien entstanden, als Joyce im Wald stolperte – sie lebt auf dem Land; das von Fans wahrgenommene "Help me" sei in Wahrheit ein "Stand like me" ihrer Mutter, die Joyce bei deren Aufnahmen unterstützte und filmte.

Polizei gab Entwarnung

Doch viele Fans wollten sich damit nicht zufrieden geben: Nachdem sie vom Ermittlungsfieber gepackt waren, begannen sie, auch die Polizei in ihre Verschwörungstheorien mit einzubeziehen. Andere begannen wiederum, Joyces Aktion als "PR-Stunt" zu diskreditieren. Tatsächlich gewann Joyce durch die Aufregung mehr als 1,5 Millionen Fans auf Youtube. Doch bei nüchterner Betrachtung der Umstände hat Joyce nie aktiv dazu beigetragen, die Hysterie weiter zu schüren. Fakt ist, dass sie mehrfach versicherte, dass es ihr gut gehe.

Parasozial

In den Medienwissenschaften ist die enge Beziehung von Fans zu ihren Fernsehidolen als parasoziale Interaktion bekannt. Das dürfte jedem bekannt sein: Man hat das Gefühl, auf irgendeine Art und Weise mit Charakteren in Fernsehsendungen "befreundet" zu sein, leidet mit und freut sich, wenn es ihnen gut geht. In den USA sehen viele Menschen etwa die Talkshow-Legende Oprah Winfrey als "Freundin", die ihnen mit Rat zur Seite steht. Klatschzeitschriften leben von dieser Art von Beziehung, die Fans zu ihren Vorbildern pflegen. Bei Teenagern ist dieses Verhalten oft besonders ausgeprägt, man denke beispielsweise an das "Verliebtsein" in Mitglieder von Boybands. Durch die Intimität von Youtube-Videos dürfte dieses Phänomen verstärkt werden, analysiert "Forbes".

Fans leiden am meisten

Die Vorfälle rund um Marina Joyce haben jetzt allerdings gezeigt, wie explosiv der Cocktail aus Intimität und Popularität werden kann, wenn sich Fans durch angebliche Indizien in eine Situation hineinsteigern. Die Möglichkeiten, im Netz dann etwa durch gefälschte Tweets oder per Photoshop manipulierte Aufnahmen für Panik zu sorgen, sind ungleich größer als vor der digitalen Revolution. "Im Endeffekt leiden wohl jene anfälligen Fans, die aus Sorge nicht mehr schlafen können, am allermeisten", schreibt der "Guardian". Eltern, aber auch die Polizei und der Youtube-Star selbst stehen dem dann hilflos gegenüber. (Fabian Schmid, 6.8.2016)