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Am Putsch beteiligte Soldaten auf der Istanbuler Bosporus-Brücke.

Foto: REUTERS

Ankara/Istanbul/Berlin – Mehr als zwei Wochen nach dem Putschversuch in der Türkei ist nach Angaben der Menschenrechtsorganisation Amnesty International der Verbleib vieler Gefangener noch immer unklar. Vor allem der Verbleib der mutmaßlichen Rädelsführer sei nicht bekannt, sagte der Türkei-Experte der Organisation, Andrew Gardner, der Deutschen Presse-Agentur (dpa) in Istanbul.

Nach dem Putschversuch von Teilen des Militärs in der Nacht vom 15. auf den 16. Juli hat Präsident Recep Tayyip Erdoğan einen 90-tägigen Ausnahmezustand verhängt. In dem Land läuft eine "Säuberungswelle" im Militär und bei der Polizei, in den Medien, der Justiz und im Bildungsbereich. Gemäß offiziellen Angaben von Ende vergangener Woche wurden bisher fast 19.000 Menschen festgenommen, gegen mehr als 10.100 von ihnen ergingen Haftbefehle. Ministerpräsident Binali Yıldırım sagte zudem am Dienstag, es seien mehr als 58.600 Staatsbedienstete suspendiert und fast 3.500 dauerhaft entlassen worden. Die EU und die Bundesregierung haben sich besorgt gezeigt über die hohe Zahl an Festnahmen und Suspendierungen.

Erdoğan macht den in den USA lebenden Prediger Fethullah Gülen und dessen Anhänger für den Putschversuch verantwortlich. Kritik am harten Vorgehen gegen mutmaßliche Verschwörer wies er zurück.

Unterbringung in Sporthallen und Reitställen

Amnesty-Experte Gardner sagte der dpa, viele Festgenommene seien aus Kapazitätsgründen überall im Land in Sporthallen oder Reitställen unter teils menschenunwürdigen Bedingungen untergebracht. Er forderte: "Die Festgenommenen müssen mit ihren Familien kommunizieren können und Zugang zu ihren Anwälten haben." Es gebe jedoch keine zugängliche Liste, aus der hervorgehe, wo wer untergebracht werde.

Natürlich habe die Regierung nach dem Putschversuch das Recht, den Ausnahmezustand zu verhängen, sagte Gardner. Es habe jedoch bereits zuvor Hinweise auf Menschenrechtsverletzungen gegeben. Dass die Regierung nun mehr Macht erhalte, sei daher besorgniserregend.

Amnesty hatte zuletzt auf mögliche Folter in Polizeigewahrsam hingewiesen. Ankara streitet die Vorwürfe ab. Erdoğan hatte am Dienstag gesagt, es könne sein, dass Soldaten "während der Tumulte Tritte und Schläge abbekommen haben". Für Folter gebe es jedoch null Toleranz. Gardner hält solch ein Dementi für "nicht glaubhaft".

AKP sieht Rechtsstaatlichkeit gegeben

Der AKP-Abgeordnete Mustafa Yeneroğlu hat die harten Maßnahmen der Regierung verteidigt und als vereinbar mit der Rechtsstaatlichkeit bezeichnet. Äußerungen, wonach es keine Rechtsstaatlichkeit gebe, entsprächen "nicht den Tatsachen in der Türkei", sagte Yeneroğlu am Mittwoch dem Deutschlandfunk.

Er meinte weiters: "Das weiß, glaube ich, auch die Menschenrechtsbeauftragte der deutschen Regierung." Die Beauftragte Bärbel Kofler hatte dem Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND) gesagt, in der Türkei sei Rechtsstaatlichkeit "zurzeit nicht gegeben".

Yeneroğlu verwahrte sich auch gegen Kritik von Amnesty International. Er sagte, Amnesty sei "offensichtlich egal, dass in der Putschnacht eben Hunderte von Menschen gestorben sind, mehrere Tausend verletzt wurden und der Staat sich quasi in einer Notsituation befand und deswegen auch in aller Deutlichkeit, in aller Härte umfassend zurückschlagen musste".

Der Parlamentarier verwies darauf, dass viele der Festgenommenen wieder freigelassen worden seien, "weil die Gerichte die Vorwürfe als nicht stichhaltig empfunden haben". Yeneroğlu sicherte – auch mit Blick auf die zehntausenden suspendierten Staatsbediensteten – zu: "Die Verhältnismäßigkeit wird geprüft. Und wie in den letzten Tagen wird es auch dann dazu führen, dass manche zurück zu ihrem Amt beordert werden und andere eben komplett entlassen werden müssen."

Kritik am Flüchtlingspakt

Deutschland und die Europäische Union sind in der Flüchtlingskrise auf eine enge Zusammenarbeit mit der Regierung in Ankara angewiesen. So hat die EU mit dem sogenannten Flüchtlingspakt einen komplizierten Tauschhandel mit der Türkei vereinbart. Mit Blick auf die zahlreichen Verhaftungen und Entlassungen in dem Land sprach sich die Menschenrechtsbeauftragte der deutschen Bundesregierung für eine "Neubewertung" des Abkommens aus. "Wir wissen, dass die Bearbeitung der Asylanträge von Afghanen, Irakern und Iranern in der Türkei nicht nach rechtsstaatlichen Regeln erfolgt", sagte Kofler und forderte: "Darüber kann die EU, darüber können auch wir nicht einfach hinwegsehen."

Der griechische Migrationsminister Ioannis Mouzalas drängte in der "Bild"-Zeitung auf einen "Plan B". Der türkische Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu hatte zuvor erklärt, Ankara müsse Abstand vom Flüchtlingspakt nehmen, wenn es nicht zu der vereinbarten Visaliberalisierung komme. (APA, 3.8.2016)