Birding ist wie "Pokémon"-Spielen – nur im richtigen Leben. Zu finden gibt es etwa: Mäusebussard, ...

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... Zaunkönig, ...

... Sumpfohreule ...

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... und Rabenkrähe.

Schauen, Staunen und Erklären. Lisa und Iris haben die unentbehrlichen Feldstecher gezückt und lassen den Vogelsucherblick Richtung Donauinsel schweifen.

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Manfred Rebhandl, geboren 1966, lebt als Autor in Wien. Er schreibt Krimis, Drehbücher, Theaterstücke und Reportagen u. a. für den Standard.

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Jeden Morgen um verlässlich 4.05 Uhr wache ich in diesen Tagen durch ein knirschend verbrutzelndes Geräusch auf, wie Speck in der Pfanne, und früher dachte ich dabei einfach: Ach Gott, irgendwelche Vögel halt! Heute weiß ich: Es sind Hausrotschwänze, die mich mit ihrem schrägen Gesang wecken! Und dass ich das weiß, habe ich Christoph Roland, einem hundertprozentig sympathischen Vogelkundler, zu verdanken, der mich am Pfingstwochenende zum Birdrace mitnahm.

Die Aufgabe dabei lautet: innerhalb von 24 Stunden möglichst viele verschiedene Vogelarten zu beobachten, visuell oder akustisch, jeweils in Bundesländerteams von mindestens drei Leuten, die gegeneinander antreten. Zwei von dreien müssen die Beobachtung bestätigen, es herrscht Mehrheitsprinzip. Schwindel gilt nicht.

Christoph hat seine Freundin Lisa mit und ihre gemeinsame Freundin Iris. Der Halbmond steht über dem Osten der Stadt, und der Prater Tower scheint sich nach ihm zu strecken, erreicht ihn aber nicht ganz.

Um genau 15.25 Uhr, Pfingstsamstag, radeln wir beim Schweizerhaus los, queren die Geleise der Liliputbahn und biegen hinaus auf die Hauptallee, dann gleich wieder rechts, denn hier ist ein kleines Gewässer, und Wasser bedeutet: Vögel!

Unsere erste Beobachtung

Eine unspektakuläre Nebelkrähe ist unsere erste Beobachtung, eine Stockente, die da herumschwimmt, die nächste, für die wir kein Fernglas und kein Vogelbuch brauchen, um sie zu bestimmen. Und dann: "He, ein Teichhuhn!"

"Wo?"

"Da! Hinter der Birke, links!"

Ein Teichhuhn ist nämlich auch ein Vogel, wie man mir erklärt, weil ein Huhn eben auch ein Vogel ist bzw. eine Ralle, um genau zu sein.

Wir fahren entlang des Zaunes eines Tennisclubs und reden ein bisschen über dies und das. Dass Christoph mit seinen exakt 325 Vogelbeobachtungen natürlich längst im "300er-Club" ist; dass es Fensterlisten gibt (ausschließlich vom eigenen klar definierten Fenster aus beobachtete Arten), Gartenlisten und alle möglichen anderen Listen. Iris aber führt keine Listen, weil sie nicht der Listentyp ist. Außerdem mag sie Libellen fast noch lieber als Vögel. Sie studiert Biologie, ein lehrendes Ehepaar begeisterte sie dort für Flugtiere, und um Lisa war es während ihres Boku-Studiums geschehen. "Vorsicht!", warnen sie mich. "Birding kann süchtig machen!"

Christoph erklärt mir, dass durch Wien eine Trennlinie führt.

Wir kommen ins Schauen, ins Staunen und die Freunde ins Erklären, während wir sehr gemütlich dahinfahren. Als wir eine Krähe beobachten, erklärt mir Christoph, dass mitten durch Wien eine Trennlinie führt, entlang derer sich im Osten der Stadt Nebelkrähen aufhalten, im Westen aber Rabenkrähen. Als er mir das in seinem schlauen Buch, dem "Svensson", zeigen will, gibt es darin diese Unterscheidung allerdings nicht mehr. Das Buch ist abgegriffen wie die vielgelesene Bibel eines Missionars, dabei ist es schon sein drittes Exemplar. Tixo hilft, das Teil noch ein wenig zusammenzuhalten.

"Da, der Kleiber!" Der läuft einen Baumstamm hinunter und ist der einzige Vogel, der das kann. "Der Baumläufer oder der Specht zum Beispiel, die laufen den Baum spiralförmig hinauf und fliegen dann von oben zum nächsten Baum hinunter, von wo aus sie wieder den Baum spiralförmig hinauflaufen."

Es war Eis und Regen angesagt für das Pfingstwochenende, nun aber herrscht herrlicher Sonnenschein mit etwas Wind, der für das "akustische Beobachten" aber nicht so gut ist. Regen wäre für die "Ornis", wie sie sich selbst nennen, eigentlich besser, denn der treibt die Vögel herunter in wahrnehmbare Höhen.

Wir lassen den lärmenden Prater hinter uns und radeln Richtung Donau, bleiben vor dem Gebäude einer Versicherung aber schon wieder stehen. "Eine Mehlschwalbe ....? Hm." Sie sind sich minutenlang nicht ganz sicher, also machen sie auch keine Notierung. Christoph erzählt mir vom Vogelgesang und meint, dass der Buchfink zum Beispiel in Kärnten unten ein "Kieks" hinten dranhängen würde, "ein Buntspecht-Kieks". Da wird es für mich richtig schräg: "Im Ernst? Hier etwa nicht?"

"Nein! Und in Spanien singen sie nochmal anders als in Kärnten!"

Und als er dann sagt, dass "viele Dialekte aussterben" würden, meint er das gar nicht ironisch.

Er muss es wissen, denn er ist schon seit 1992 angefixt. Der freiberufliche Vogelkundler sitzt im Vorstand von BirdLife Österreich und organisiert das Birdrace, stellt Teams zusammen und schickt sie in die richtigen Gebiete. Er arbeitet bei Kartierungen mit und ist Ringreader. Für ihn war es ein Feiertag, als am 5. April d. J. am heimischen Institut der Veterinärmedizin mit einer Mönchsgrasmücke erstmals ein Zugvogel mit einem österreichischen Vogelring markiert wurde. Bei der Kläranlage in Simmering beobachtet er gerne beringte Möwen.

Wir radeln weiter, aber nicht sehr weit. Meine Begleiter entdecken Kiefernwälder: "Da ist ein Nest!" Wir stehen hundert Meter davor, sind uns dann aber nicht sicher, ob es nicht doch nur eine Nadelausbuchtung ist. Egal. Christoph beobachtet eine Kohlmeise und singt mir auf Wienerisch vor, wie sie klingt. Die Freunde "twitchen" die Meise. So nennen sie das Zählen während eines Wettbewerbes.

10.600 Vogelarten weltweit

Insgesamt gibt es etwa 10.600 bekannte Vogelarten auf der Erde, die in unterschiedliche Familien wie Krähen, Spinte, Drosseln oder Rallen eingeteilt werden. Dachte ich bisher, es gebe nur den einen im Lied besungenen Fink, weiß ich nun, dass es unterschiedlichste Finkenvögel gibt, die unterschiedlichste Lebensräume vom Tiefland bis zum Hochland bewohnen: Birkenzeisig, Bluthänfling, Zitronengirlitz, Erlen- und Birkenzeisig, Kernbeißer und Gimpel – alles Finken!

Wenn besagter Gimpel bei uns im heimischen Garten in der Bergwelt Oberösterreichs saß, wusste unser Vater: In drei Stunden wird es schneien. Hofften wir im Frühling, dass sich das Azorenhoch endlich verfestigen würde, wurde unsere Hoffnung zerstört, sobald der Gimpel wieder dasaß. Nun, da mein wunderbarer Vater seit Jahren tot ist, füttert meine Mutter im Winter die Vögel vor ihrem Küchenfenster, sie schleppt säckeweise Vogelfutter aus dem örtlichen Lagerhaus nach Hause, und jeden Winter kommen mehr Vögel. Sie bleiben oft noch bis in den Frühling hinein beim Vogelhäuschen, weil auch Vögel einen gewissen Komfort zu schätzen wissen (was wiederum die Katzen des Nachbarn zu schätzen wissen).

Jeden Morgen sitzt eine Amsel ganz oben auf einer sehr hohen Fichte und schaut meiner Mutter beim Frühstück zu. Manchmal sagen wir, dass es unser Vater, der Natur- und Vogelliebhaber, ist, der in Gestalt dieses Vogels nach wie vor bei uns weilt. Es macht uns seine Abwesenheit erträglicher.

Vor ein paar Wochen war Christoph in Norwegen und hat dort Alken und Lummen gesehen und Seetaucher. Und letzte Woche war er im Donaudelta. Im Juli bekommen er und seine Lisa ein Kind, und dieses Kind wird sehr viele Vögel sehen, so viel ist klar. Später wird es vielleicht Jonathan Franzen lesen, der so etwas wie einen Vogelbeobachterboom unter Literaturfreunden ausgelöst hat.

Überall, wo er auf Lesereise hinkommt, setzt er sich irgendwo hin und hält Ausschau nach einem Federvieh, das er noch nie gesehen hat. Wer einen Vogelnamen im Buchtitel verwendet, erhöht seine Absatzchancen beträchtlich: der Mauerläufer, der Distelfink ...

Einige Bekanntheit als Birder erlangte auch der US-Soldat Jonathan Trouern-Trend, der 2004 während seiner Stationierung im berühmten Camp Anaconda im Irak begann, ein Online-Tagebuch mit dem Titel Birding Babylon über seine Vogelbeobachtungen inmitten von Gewehrfeuer und Raketenangriffen zu schreiben. Bis zu 50 Grad im Schatten schieben dort die Dattelproduktion der Bäume an, aber "die Weißohrbülbüls scheint das nicht im Mindesten zu stören", schreibt er. "Sie singen, jagen einander und hüpften in den Tamariskenbäumen von Ast zu Ast."

Zwar kommt es im Kriegsgebiet auch zu Beobachtungen dieser Art: "Unterwegs stieß der Hubschrauber mit einem Vogel zusammen, er brach durch eines der Fenster zu Füßen des Piloten und blieb im Hubschrauber liegen."

Aber öfter beobachtet Trouern-Trend die Kurve eines Vogelflugs: "Manchmal fliegen sie seltsam abgehackt, wie zum Spaß. Sie beschleunigen im 45-Grad-Winkel aufwärts, dann lassen sie sich mit angelegten Flügeln fallen." Vogelkundige werden wissen: Es handelt sich um die Ringeltaube. Der Weißstorch heißt im Irak "lak-lak", erfährt man weiters, und er bringt dort genauso die Babys wie bei uns im Burgenland. Meist sind es banale Beobachtungen, die aber gerade dadurch die Schönheit der Natur selbst inmitten von Krieg erfahrbar machen. Nur selten gibt es dabei echte Höhepunkte: "Auf den Zäunen sah ich einen Landschwanzdrossling. Letzter war eine Erstsichtung."

Der kompetitive Charakter der Vogelbeobachtung lässt sich also auch im Irak nicht verleugnen, und Christoph weiß von einem Bräutigam zu erzählen, der seine eigene Hochzeit verließ, weil ihn per SMS die Nachricht von einem irgendwo gesichteten, sehr seltenen Vogel ereilte, den er unbedingt selbst beobachten musste, bevor jener weiterzog. Es ist nicht überliefert, wie lange die Gattin bei diesem Vogel blieb.

Tiit. Tiit. Tiit.

Vögel können nicht nur Ehen zerstören, sondern auch, wenn es schlecht hergeht, gute Nachbarschaften. Die Zwergeule zum Beispiel kann das richtig gut. Sie hört sich an wie ein Lkw, der rückwärts fährt. Tiit. Tiit. Tiit. Von heftigen Südströmungen hierher getragen, wo sie eigentlich nicht hingehört, sitzt sie dann manchmal wochenlang unentdeckbar in einem Baum und wirbt um ein Weiberl, das dann aber nie kommt. Das macht Nachbarn wahnsinnig, die den anderen verdächtigen, Außerirdische zu beheimaten.

Die mit Abstand meisten Vogelbeobachtungen konnte eine gewisse Phoebe Snetsinger für sich verbuchen. Nachdem sie 1981 mit einer unheilbaren Krebsdiagnose konfrontiert war, wollte sie noch ein paar Vögel sehen. Der Krebs ging, aber die Leidenschaft für Vögel blieb. Als sie 1999 bei einem Autounfall in Madagaskar starb, hatte sie knapp zuvor den äußerst seltenen Vangawürger beobachtet und vor diesem 8400 andere Arten. Das sind 85 Prozent des weltweiten Vogelartenvorkommens.

Auf der Brücke wird das Spektiv ausgepackt, ein 3000-Euro-Fernrohr – den Feldstecher haben sowieso alle Ornis um den Hals. Nur Iris trägt ein Insektenbeobachtungsinstrument. Christoph stellt mir das Spektiv so ein, dass ich in großer Entfernung eine Gruppe Schwäne beobachten kann, die ich – so scheint es mir – von meinen Badeaufenthalten an der Alten Donau kenne.

Nächster Stopp Donauinsel. "Das könnte ein Krähennest im fünften Baum von der Brücke aus Richtung Norden sein!" Was noch nicht weiter spektakulär wäre, aber: Im Krähennest nisten oft Waldeulen, und eine solche wäre dann schon spektakulär, weil schwer zu beobachten. Wir sehen aber nur Krähen.

Im Straßengewirr vor dem DC Tower befindet sich eine G'stättn mit abfallendem Hang, Unkraut und Gebüschen. Ein ideales Habitat für einen Hausrotschwanz. Oder ist es doch ein Gartenrotschwanz? Um die Vogelpopulation in unserem eigenen Garten zu erhöhen, sollten wir diesen also nicht übertrieben pflegen, der englische Rasen ist Gift für den Spatz, der auf Gänsefußgewächse und Beifuß fliegt, Bluthänflinge mögen Hundskamille, Girlitze sollen Wegerich geradezu lieben. Und Löwenzahn kommt bei allen auf den Tisch.

Seitlich des DC Tower fahren wir an einem Haufen schräger Vögel mit migrantischem Hintergrund vorbei, die dort – alle mit weißer Schirmmütze – eine Breakdance-Nummer vor der verspiegelten Fassade einüben. Schräge Vögel stehen auch auf der Liste der bedrohten Arten.

Im Donaupark dann herrliche Ruhe. In einer Silberpappel sehen wir zwei Höhlen, in der oberen nistet der Buntspecht, in der unteren ein Star. Die Bettelrufe der Kleinen locken die Eltern, die hunderte Male hin und her fliegen. Ein Sperber schreckt sie auf.

Die Jagd nach der Krone

Eine Erstsichtung des Amerikaners im Irak, einen Drosselrohrsänger, sehe, höre, beobachte ich anderntags selbst, als ich am Josefsteg in der Wiener Lobau auf Flora, Jessica und Bertl warte, ein weiteres Wiener Beobachterteam auf der Jagd nach der Birdrace-Krone. Mindestens zwei Kuckucke sind in ein paar Hundert Metern Entfernung zu hören, und sie fliegen immer wieder über mich hinweg. Den Kuckuck hörte ich als Kind, wenn wir jeden Sonntag vor der Messe auf den Friedhof gingen, um uns in der Leichenhalle durch das Glasfenster der Särge die Gesichter der Toten anzuschauen. Dazu hörten wir: "Kuckuck. Kuckuck."

Am Abend zuvor gab es das Zwitschern und Gurren der europäischen Sangeshelden und -heldinnen beim ESC. Hier in der Lobau gibt es keine freigelegten Bauchmuskeln, kein Feuerwerk, keinen Glitter. Nur die Sonne, die über der Puszta aufgeht, und das Rauschen des Windes. Mehr Spezialeffekte hat die Natur nicht nötig. Um mich herum ein Pfeifen, Röcheln, Meckern, Piepsen, Schnattern, Fiesen.

Flora und ihre Freunde haben bereits 62 Arten gehört oder gesehen, das ist guter Durchschnitt, wie sie sagen. 70 bis 90 Arten wollen und werden sie bis 15 Uhr noch schaffen. Hier sehen sie einen Sakerfalken, was Jessica sehr freut, denn er ist weltweit bedroht. Die Sakerfalken sind richtige "Speckgürtelkiller": Tauben ziehen oft hinaus aus der Stadt auf das freie Land, um dort zu fressen. Und da draußen, im Speckgürtel der Stadt, wartet dann diese Falkenart. In Österreich soll es noch etwa 30 Paare geben, man beobachtet sie "bestandsunterstützend".

Wiesenweihendurchzug

Das Beobachterteam um Flora erwartet dann, hier noch eine Rohrammer zu sehen. Bertl sieht sie, aber die beiden Damen nicht. Dann hört sie Jessica, aber die anderen beiden sind sich nicht sicher. "Eigentlich könnten wir sie schon aufnehmen", meint Flora schließlich. Aber eigentlich auch wieder nicht.

Dann rufen sie noch: "Buntspecht! Stockente! Zwergdohle! Rohrweihe! Wasseramber!"

"Das ist hier wie Pokémon-Spielen", sagt Jessica, auf dem Zaun stehend und durch ihr Fernrohr blickend. "Nur halt im richtigen Leben."

Das Siegerteam aus der Steiermark – die Styrian Wetland Birders – beobachtete am Ende 102 Arten, und 7604 Euro für den Artenschutz wurden gesammelt. "Insgesamt wurde ein starker Wiesenweihendurchzug in ganz Österreich bemerkt", steht am Montag auf der Homepage. (Manfred Rebhandl, Album, 30.7.2016)