Zur Lösung aktueller Probleme konnte der Besuch des österreichischen Bundeskanzlers bei seinem ungarischen Amtskollegen eher weniger beitragen. Umso mehr profitierte nicht nur der Besucher, sondern ganz Europa von der staatsmännischen Weisheit, die Viktor Orbán mit der Betriebsanleitung verströmte: "Wer Migranten braucht, soll sie aufnehmen", und: "Migration ist Gift." Er lässt damit einen gewissen Ekel an der Menschheit schlechthin erkennen, ist doch deren Geschichte von Anbeginn an eine Geschichte der Migration, also pures Gift. Mit Blick auf deren frühe Phase konnte man Orbáns Menschenbild noch milden Respekt entgegenbringen, ist doch nicht endgültig entschieden, ob die Migrationswelle, die sich von Namibia und Umgebung aus bis heute über den Erdball ergießt, dem Planeten Erde wirklich guttut.

Ohne das Gift der Migration säßen die stolzen Ungarn, als solche womöglich nicht einmal erkennbar, noch heute in Afrika, ein kleines Rudel von Sammlern. Was nicht nur für sie gilt. Ein Befehl wie "Macht euch die Erde untertan!" wäre ohne wiederholte Giftspritzer nicht zu befolgen gewesen. Kontinente wären menschenleer, Amerika, Australien, Ozeanien giftfrei, hätte Orbáns Gebot die Chance gehabt, über Gottes Gebot zu triumphieren. Es ist der Fluch der späten Geburt!

Einmal Afrika entronnen, verbreitete sich der Giftmüll der Migration immer rascher über die Erde. Ein Beispiel nur von vielen: Gegen Ende des ersten Jahrtausends nach Christi Geburt begann sich im tiefen Mittelasien ein Häufchen Steppennomaden zu giften, und wenig später trafen seine Angehörigen als Migranten, geführt von einem gewissen Árpád – aber gewiss keinem Orbán seiner Zeit – in der Tiefebene an Theiß und mittlerer Donau ein, also grob gesprochen im heutigen Ungarn.

Die Ortsansässigen mögen diese Migration damals als Gift empfunden haben. Wer Steppennomaden braucht, soll sie aufnehmen, mochten sie sich gesagt haben. Geholfen hat es nichts. Inzwischen wissen wir, Steppennomaden sind fremd, aber auch Menschen, und wenn sie die Steppe vergessen und sich den Werten der Puszta anpassen, lässt sich mit dem Gift ihrer Migration schon leben. Sie wären ja gern weiter migriert, aber dagegen fand sich im Jahre 955 vor Augsburg ein sedierendes Antitoxin.

Einen etwas anderen Charakter hatte die ungarische Migration, die fast auf das Jahr genau tausend Jahre später stattfand. 1956 kamen sie als Flüchtlinge vor einem brutalen politischen System – aus demselben Grund, aus dem Flüchtlinge heute nach Europa strömen, die ausgerechnet ein ungarischer Ministerpräsident verallgemeinernd als Gift schlechthin definiert. Ist wirklich alle Migration Gift, oder wird da ungeniert mit zweierlei Maß gemessen, weil es – wie das auch in Österreich immer stärker spürbar wird – innenpolitisch opportun ist?

Humanität für die eigenen Landsleute und den Fremdenverkehr zu reservieren, Fremde in Bedrängnis aber gnadenlos auszusperren ist kein Rezept zur Lösung eines – nicht nur – europäischen Problems. Migration lässt sich nicht auf Befehl abstellen, auch nicht auf den giftigen Orbáns. (Günter Traxler, 28.7.2016)