Anfang Juli entschied der Verfassungsgerichtshof (VfGH), dass der zweite Wahlgang der Bundespräsidentenwahl 2016 zu wiederholen sei. In elf Bezirkswahlbehörden waren Unregelmäßigkeiten bei der Auszählung der Briefwahlstimmen aufgetreten. Insgesamt wurden in diesen elf Bezirken über 77.000 Briefwahlstimmen abgegeben. Da 77.000 mehr ist als die gut 30.000 Stimmen, die Alexander Van der Bellen im Gesamtergebnis vor Norbert Hofer lag, folgerte der VfGH, "dass die Rechtswidrigkeiten von Einfluss auf das Wahlergebnis sein konnten" (siehe Seite 162 in der schriftlichen Ausfertigung der Entscheidung).

Zwar spricht der VfGH davon, dass es sich um eine "theoretische" Möglichkeit handelt, aber für die Öffentlichkeit mag es durchaus von Interesse sein, wie "theoretisch" diese Möglichkeit ist.

Die erste Grafik zeigt den Stimmenanteil Norbert Hofers in den Bezirken ohne rechtswidrige Vorgänge bei der Auszählung der Wahlkarten. Jeder Punkt ist ein Bezirk. Die X-Achse gibt den Anteil Hofers an den Nicht-Wahlkartenstimmen an, die Y-Achse jenen an den Wahlkartenstimmen. Wenig überraschend ist der statistische Zusammenhang sehr stark (Pearsons r = 0,97), da in Hofer-Hochburgen auch die Wahlkartenwähler in höherem Ausmaß Hofer wählen. Wahlkartenwähler sind schließlich keine Aliens, sondern ähneln den Wählern in ihren Heimatbezirken strukturell.

Natürlich gibt es auch systematische Unterschiede zwischen Wahlkartenwählern und anderen Wählern, was dadurch deutlich wird, dass die graue Funktionsgerade etwas flacher ist als eine 45-Grad-Linie. Norbert Hofer schnitt nämlich (wie die FPÖ traditionell) bei Wahlkartenwählern etwas schwächer ab.

Grafik: Laurenz Ennser-Jedenastik

Die zweite Grafik fügt zu der ersten Darstellung die elf vom VfGH identifizierten Problembezirke hinzu. Sollten die rechtswidrigen Vorgänge in diesen Bezirken mit Manipulationen zugunsten Alexander Van der Bellens im Zusammenhang stehen, dann müssten diese Bezirke unterhalb der grauen Punktewolke zu liegen kommen. Denn der Hofer-Anteil an den Briefwahlstimmen hätte hier künstlich gedrückt werden müssen, um Van der Bellen den Sieg zu bringen.

Grafik: Laurenz Ennser-Jedenastik

Die Grafik zeigt eindeutig, dass das nicht der Fall ist. Die rosa Punkte fügen sich ohne Ausreißer in die graue Punktwolke ein, die Korrelation bleibt unverändert bei r = 0,97. Die Stimmenanteile für Norbert Hofer bei den Wahlkarten sind in den Bezirken mit Rechtswidrigkeiten also genau dort, wo man sie auf Basis des Ergebnisses ohne Wahlkarten erwarten würde. Manipulation schaut anders aus.

So weit, so gut. Kommen wir schlussendlich zur Frage, wie "theoretisch" das Szenario ist, bei dem etwaige Manipulationen in den elf Bezirken Norbert Hofer tatsächlich den Sieg gekostet hätten. Dazu müssen wir einfach in diesen elf Bezirken den Stimmenanteil Hofers am Wahlkartenergebnis so weit erhöhen (das heißt die rosa Punkte nach oben verschieben), bis die gut 30.000 Stimmen Rückstand auf Van der Bellen wettgemacht worden sind.

Die dritte Grafik zeigt in Blau, welche Wahlkartenergebnisse Norbert Hofer in den elf Bezirken haben hätte müssen, wenn eine Manipulation dort ihn tatsächlich über 30.000 Stimmen gekostet hätte. Anders gesagt drückt der Abstand zwischen blauen und rosa Punkten das nötige Mindestausmaß an Manipulation aus. In den Bezirken Leibnitz und Südoststeiermark etwa (den beiden stärksten Hofer-Bezirken unter den elf) hätte der FPÖ-Kandidat statt 57 nicht weniger als 98 (!) Prozent erreichen müssen, damit eine Manipulation in nötigem Ausmaß überhaupt erst möglich wird.

Grafik: Laurenz Ennser-Jedenastik

Welche Schlüsse können wir aus diesen Daten ziehen? Ich bin weder Verfassungsjurist noch halte ich das VfGH-Urteil für eine große Ungerechtigkeit (unserer Demokratie möge nichts Schlimmeres als eine Wahlwiederholung passieren). Mir ist auch klar, dass Juristen andere Kriterien zur Entscheidungsfindung heranziehen (müssen) als Sozialwissenschafter. Dennoch frage ich mich, ob den Verfassungsrichtern bewusst war, wie groß die Lücke ist zwischen dem theoretischen Szenario, das ihrem Urteil zugrunde liegt, und dem, was man nach sozialwissenschaftlichen Maßstäben als plausibel bezeichnen kann. (Laurenz Ennser-Jedenastik, 27.7.2016)