Unter der hundertjährigen Figueira auf der Praça Quinze sitzen bloß ein paar junge Erdnussverkäufer. Touristen dagegen genießen den Schatten der brasilianischen Ficus-Art nur sehr selten – dabei würden sie auch auf der Suche nach den Anfängen von Rio de Janeiro genau hier fündig.

Tropenmetropole mit Vergangenheit

Wenn in einer Woche die Olympischen Spiele in der Stadt eröffnet werden, sind die Buben mit ihren Stanitzeln demnach überall anders in der Stadt besser aufgehoben – oben auf dem Zuckerhut, unter der gigantischen Christusstatue oder an der Copacabana. Dort lassen sich Erdnüsse innert Minuten an Touristen verkaufen. Doch selbst eine gegenwartssüchtige Tropenmetropole braucht Viertel mit Vergangenheit, in denen Einheimische unter sich bleiben. Der Platz mit dem bescheidenen barocken Königspalast Paço Imperial und der hohen Kirchendichte ist so einer. Zwischen himmelstürmenden Bürotürmen aus Glas und verstopften Hauptstraßen wirkt er wie eine Halluzination. Trotzdem war er lange Zeit Brennpunkt der 450 Jahre alten Stadt.

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Die Praça Quinze mit dem bescheidenen barocken Königspalast Paço Imperial.
Foto: AP / Leo Correa

"Amendoins, amendoins", rufen jetzt die Buben, sobald sich ein Fremder nähert, und sie lächeln so unwiderstehlich, bis schließlich doch einer Nüsschen kauft. Dabei wurde das zentrale Viertel um die Praça Quinze in den vergangenen Jahren auf Hochglanz poliert – wohl auch für die Olympischen Spiele und die Touristen. Das Händlerviertel von früher öffnet sich gleich dahinter, am Torbogen Arco do Teles. Liebevoll gepflegt steht in der Travessa do Comércio und der Rua dos Mercadores ein Rest der Pracht: Kolonialhäuser mit schmiedeeisernen Balkonen, ganz wie in Portugal, in die nach der Verjüngungskur fesche Restaurants, Bars und Galerien eingezogen sind.

Hafenkai ohne Wasser

Wenige Schritte weiter verbirgt sich der ehemalige Hafenkai. Ohne den auffälligen Pyramidenbrunnen wäre der Anleger völlig ohne Wasser, denn das Meer umspült die Kaimauer, auf der ein Straßenkehrer die leeren Cachaça-Flaschen der letzten Nacht wegräumt, schon lange nicht mehr. Und doch: Hier hat alles begonnen.

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In der Travessa do Comércio und der Rua dos Mercadores stehen noch Kolonialhäuser mit schmiedeeisernen Balkonen, ganz wie in Portugal, in die nach der Verjüngungskur fesche Restaurants, Bars und Galerien eingezogen sind.
Foto: AP / Felipe Dana

Der portugiesische Prinz und spätere König João VI. blickt ganz verzückt, als er mit der Flotte im Jänner 1808 in diese Bucht segelt. Ein französisches Heer steht vor Lissabons Toren, also entschließt sich die Königsfamilie zur Flucht über den Atlantik. Mit ihr schifft sich der gesamte Hofstaat von rund 17.000 Personen ein, und die Praça Quinze ist voller Menschen, als die 36 schwer beladenen Schiffe hier Anker werfen. Feine Leute gehen von Bord, die komplette Nationalbibliothek wird ausgeladen.

Auf der anderen Straßenseite, wo heute die Fähren nach Niterói ablegen, setzen die Einwohner von Rio König João VI. ein Denkmal. Denn das tropische Abenteuer ist nicht gleich wieder zu Ende, der portugiesische Monarch denkt gar nicht daran abzureisen: Er zieht das süße Leben unter Palmen den politischen Wirren zu Hause vor und weigert sich, nach Portugal zurückzukehren. Die Kolonie wird kurzerhand zum Kaiserreich erklärt. Pedro I., Kaiser von Brasilien: ein kurzes, aber spektakuläres Intermezzo zwischen 1822 und 1889.

Pedros Sommerfrische

Während die Kaiserzeit am Zuckerhut nur mehr um die Praça Quinze in Erscheinung tritt, scheint sie im knapp 70 Kilometer entfernten Petrópolis noch überall lebendig. Auf über 800 Meter Seehöhe im Hochland Serra dos Órgãos gelegen und mit angenehmen Temperaturen um die 20 Grad, hat sie alle Qualitäten eines Sommersitzes. "Cidade Imperial", Kaiserstadt, steht über dem Einfahrtstor. Mit rund 300.000 Einwohnern erweist sich der von deutschen Siedlern gegründete parkähnliche Gebirgsort heute als Themenpark für Monarchisten. Fast alles erinnert an die Gründerzeit, etwa die Rua Mosela, die Moselstraße, oder das Café Chocolates Katz, das 1953 die Österreicherin Ruth Bucki und die Deutsche Anne Katz gründeten, um noblen Gästen Sacher- oder Linzer Torte zu servieren.

Auf über 800 Meter Seehöhe im Hochland Serra dos Órgãos gelegen und mit angenehmen Temperaturen um die 20 Grad, hat Petrópolis alle Qualitäten eines Sommersitzes.
Foto: iStockphoto / Cesar Okada

Doch nicht nur in dieser Hinsicht wirkt Petrópolis wie ein tropisches Bad Ischl: Viele Besucher erkunden das Zentrum der Sommerfrische in einer Pferdekutsche, halten als Erstes vor dem Palácio Cristal, dem Kristallpalast, der 1879 für eine Blumenausstellung eröffnet wurde. Dann ziehen sie weiter über die Avenida Barão do Rio Branco mit ihren "Kaiservillen" zur pompösen evangelischen Kirche und der Kathedrale, in der der letzte Kaiser Pedro II. – Sohn von Pedro I. und der habsburgischen Leopoldina – begraben ist. Seit 2013 halten sie auch bei der Casa Stefan Zweig. Das Haus, das der Literat bis zu seinem Freitod bewohnte, wurde damals als Museum eröffnet.

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Petrópolis, 70 Kilometer nördlich von Rio de Janeiro, wirkt rund um die evangelische Kirche wie ein tropisches Bad Ischl. Brasiliens Kaiser waren dort auf Sommerfrische.
Foto: picturedesk / Caro

Der neoklassizistische Kaiserpalast fungiert heute als Stadtmuseum. Ein Aufseher händigt den Besuchern viel zu große Filzpantoffeln aus, in denen sie recht unköniglich über die Jacarandaholzdielen in den Wohnräumen von Pedro II. schlurfen. Alles sieht so aus, als würde er jeden Augenblick zurückkehren: Die Kaiserkrone mit ihren 639 Brillanten und 77 Perlen glänzt dort, als würde sie gleich wieder aufgesetzt werden. Und draußen im Park verrät ein Wärter, dass die Nachfahren Seiner Majestät noch immer in dem angrenzenden Palast wohnen. Selbst die Abschaffung der Laudêmio, einer Immobiliensteuer, die als Apanage an die Kaiserfamilie zu zahlen war, wurde in Petrópolis nie erwogen. Erst seit Ende 2014 liegt ein Gesetzesentwurf zur Auflösung vor – bis heute ist darüber nicht entschieden.

Kurzes Kaisermärchen

Die Anziehungskraft von Petrópolis begann allerdings schon 1889, im letzten Jahr des Kaiserreichs, zu verblassen. Wieder drängten sich aufgeregte Menschenmengen auf der Praça Quinze: Kaiser Pedro II., 49 Jahre im Amt, wurde abgesetzt und die Republik ausgerufen. Danach flackerte das Licht der Monarchie nur noch einmal kurz auf: 1993, als die Brasilianer in einer Volksabstimmung über die Regierungsform zu entscheiden hatten. Zur Wahl standen die präsidiale Demokratie und die konstitutionelle Monarchie. Bekanntermaßen siegte das Präsidialsystem, und das brasilianische Märchen vom Kaiserreich endete abrupt. (Beate Schümann, RONDO, 29.7.2016)