Nerven bewahren und den Pakt mit der Türkei zur Migration weiterhin umsetzen – das fordert Johannes Hahn. Über die Beitrittsgespräche werde erst im Herbst entschieden.

Foto: Christian Fischer

Der für Erweiterung und Nachbarschaftspolitik zuständige EU-Kommissar Johannes Hahn spricht sich trotz der bedenklichen menschenrechtlichen Entwicklung und jener der Demokratie in der Türkei strikt dagegen aus, die Beziehungen der Union aus einer Emotion heraus jetzt allzu rasch abzubrechen. Sowohl beim Migrationspakt als auch bei den Beitrittsverhandlungen müsse die EU die Verträge und die Sachlage erst sorgfältig prüfen, bevor man eine Entscheidung treffe, sagte der Österreicher im Interview mit dem STANDARD. Das sei im Herbst zu erwarten.

Auch würde ein Einfrieren von Hilfsgeldern beispielsweise vor allem syrische Flüchtlinge im Osten der Türkei treffen. Bis zum Ende des Sommers werden bereits 1,2 Milliarden Euro von der EU an die Syrer eingesetzt sein, zwei Milliarden Euro insgesamt bis Jahresende. Vorbeitrittshilfen bei Wirtschaftsprojekten dienten zum Teil dem eigenen Interesse der EU, man könne Verträge nicht so einfach stoppen.

Was den EU-Austritt von Großbritannien betrifft, hält Hahn eine gute Lösung im Interesse beider Seiten für möglich, wenn "fair und hart" verhandelt wird. So könnten die Briten durchaus damit rechnen, im Binnenmarkt zu bleiben, sollte die Personenfreizügigkeit für EU-Bürger weiterhin gelten, was er befürworten würde. Darüber müsse sich aber zuerst die Regierung in London klar werden, was sie eigentlich wolle. In der Nachbarschaftspolitik sieht der EU-Kommissar die Talsohle in den Beziehungen zu Russland durchwandert, er erwartet Fortschritte mit Moskau.

STANDARD: Im Oktober 2015 sind Sie mit Vizepräsident Frans Timmermans beim türkischen Präsidenten Erdoğan gesessen und haben den EU-Türkei-Pakt zur Lösung der Migrationskrise verhandelt. Hätten Sie sich damals vorstellen können, dass das Land neun Monate später nach einem Putschversuch im Ausnahmezustand ist und die Beziehungen zur EU vor einer Zerreißprobe stehen?

Hahn: Nein, schlicht und einfach. Damals herrschte eine gewisse Aufbruchsstimmung in Bezug auf die Intensivierung der Zusammenarbeit mit der Türkei. Aber als Nachbarn gehen wir nicht verloren. Die Geografie ist Schicksal, nicht Wahl.

STANDARD: Wollte die Türkei selber auch diese Annäherung, oder wollte vor allem die EU den Pakt wegen der Flüchtlingskrise, die damals auf dem Höhepunkt war?

Hahn: Ich meine durchaus auch Erdoğan. Die Türken haben klar zum Ausdruck gebracht, dass in der Zusammenarbeit mit Europa ihre Zukunft liegt, auch vor dem geopolitischen Hintergrund der Einbettung des Syrienkonflikts, der neuen Entwicklung mit dem Iran, der wirtschaftlichen Entwicklung. Nach wie vor gilt heute ja, dass wir für die Türkei der wichtigste Wirtschaftspartner sind. Umgekehrt ist die Türkei ein wesentlicher Partner für uns. Das alles hat uns damals bewegt, natürlich auch die Flüchtlingskrise. Diese Aufbruchsstimmung ist nun leider völlig verloren gegangen.

STANDARD: Aber es gab doch damals schon lange Konflikte wegen des schlechten Umgangs der türkischen Regierung mit Grundrechten, mit den Medien, der Unterdrückung der Opposition. Hat man die Härte Erdoğans unterschätzt?

Hahn: Erdoğan ist ein sehr emotionaler Mensch. Aber für mich zählen die Fakten. Damals war die Einschätzung, dass es zwar Rückschritte im Menschenrechtsbereich gibt, aber dass wir durch Verhandlungen die Dinge beeinflussen und wieder ins Lot bringen können. Das war auch die Einschätzung von vielen Menschenrechtsorganisationen und NGOs in der Türkei.

STANDARD: Aber wo war dann der Bruch, haben die Europäer etwas übersehen?

Hahn: Ich denke, Erdoğan hat seine eigene Agenda. Ob die mit der Europäischen Union kompatibel ist, müssen wir zu einem bestimmten Zeitpunkt beantworten, aber nicht jetzt. Man muss auch sagen, die Türkei ist nicht Erdoğan allein. Das sind 80 Millionen Menschen, viele von ihnen setzen Hoffnungen in die EU. Heute geht es vor allem darum, dass wir keine Gesprächsverweigerung haben, dass wir weiterhin mit der Türkei reden. Nur auf diese Weise können wir etwas für die Menschen im Land, die noch an einen proeuropäischen Weg glauben und dafür vieles auf sich nehmen, bewirken.

STANDARD: Es mehren sich die Stimmen bei Politikern in der EU, die besagen, dass man die Beitrittsverhandlungen sofort abbrechen muss. Sie haben gesagt, die Einführung der Todesstrafe würde automatisch dazu führen. Was gilt?

Hahn: Die Todesstrafe ist etwas Symbolhaftes, daher mein Satz, dass das für Beitrittsverhandlungen ein K.-o.-Kriterium ist. Aber man kann selbstverständlich auch diesen schleichenden Abbau der Rechtsstaatlichkeit, den wir in unserem Erweiterungsbericht vom Herbst des Vorjahres ja ganz klar angesprochen haben, nicht ignorieren. Und es ist seitdem leider nicht besser geworden. Vor kurzem hatten wir die Aufhebung der Immunität von 140 Abgeordneten im türkischen Parlament, weiters die Verhaftung von Journalisten, die temporäre Inhaftierung von Akademikern, die sich in einem Memorandum über die Entwicklung in der Türkei beschwert haben. Die Forderung nach der Todesstrafe ist der vorläufige Höhepunkt.

STANDARD: Wann muss die EU Erdoğan sagen: Schluss, vorbei, so geht es nicht weiter?

Hahn: Meine Position ist, dass man nicht emotional reagieren darf. Ich muss geltende Beschlüsse einhalten, die Dinge auf dem Weg halten. Wir haben als EU unsere Verfahren im Beitrittsprozess, die für jedes Kandidatenland gelten und die einzuhalten sind. Es wird im Herbst einen Bericht geben.

STANDARD: Sie meinen den nächsten EU-Erweiterungsbericht?

Hahn: Ja, da wird man sich anschauen müssen, ob und inwieweit die Kopenhagen-Kriterien noch eingehalten werden.

STANDARD: Also die Mindestkriterien, die ein EU-Kandidat erfüllen muss, wie Rechtsstaatlichkeit. Ist es denkbar, dass die Staats- und Regierungschefs schon früher handeln?

Hahn: Ich kann die Dynamik nicht vorwegnehmen. Ich kann nur sagen, wie es sich heute darstellt. Im Moment gibt es eine Fülle von Ankündigungen in der Türkei. Jetzt müssen wir schauen, wie sich die Dinge materialisieren. Ein Bespiel: Ich habe es für gut befunden, dass die OSZE nun angekündigt hat, sie wolle die Prozesse gegen Verdächtige, gegen die Inhaftierten in Zusammenhang mit dem Putschversuch, beobachten. Wenn die Türkei dem zustimmt, wäre das ein gutes Signal.

STANDARD: Wäre es falsch, jetzt sofort die Beitrittsverhandlungen abzubrechen oder die Hilfszahlungen an die Türkei einzufrieren? Was konkret kann die EU überhaupt tun?

Hahn: Wir müssen die Dinge unterscheiden. Zunächst einmal, was ist von Erdoğan angekündigt, was wird umgesetzt? Da fehlt uns in der Gesamtheit noch das Bild. Aber es ist schon klar, das Bild ist äußerst kritisch, dafür braucht man keine tiefschürfenden Analysen. Ich habe in einem gemeinsamen Statement mit EU-Außenkommissarin Mogherini ganz klar zum Ausdruck gebracht, dass Massenverhaftungen und -suspendierungen auf Verdacht in weiten Teilen der Zivilgesellschaft inakzeptabel sind und die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit sowie die Grundwerte einzuhalten sind. Trotzdem muss man sagen, wenn wir so großen Wert auf Rechtsstaatlichkeit legen, dann gilt dieser Maßstab auch für uns selbst, ob mir das jetzt emotional passt oder nicht.

STANDARD: Sie meinen, die EU muss ihre Verträge mit der Türkei einhalten?

Hahn: Ja, und auch zu ihren eigenen Prinzipien stehen. Das heißt, wir müssen Verfahren beachten und Ergebnisse genau herausarbeiten. Wenn wir jetzt Schnellschüsse machen würden, wäre das genau das, was wir an Erdoğan kritisieren. Wir sollten Schnellschüsse vermeiden.

STANDARD: Was steht auf dem Spiel für die EU, wenn die Beziehungen zur Türkei scheitern, Stichwort Flüchtlingsproblem.

Hahn: Man muss sich vor Augen halten, dass dieser berühmte Aktionsplan vom Herbst verschiedene Bereiche umfasst. Die Migrationssache ist nur ein Thema davon. Der Schwerpunkt heute liegt darauf, dass wir bereit sind, unsere Beiträge zu leisten zu den enormen finanziellen Aufwendungen für Flüchtlinge, die die Türkei hat. Wir leisten den Beitrag, weil das zu einer Stabilisierung im Osten der Türkei, an der Grenze zu Syrien führt.

STANDARD: Also die drei Milliarden Euro in zwei Jahren für syrische Flüchtlinge, 2016 und 2017?

Hahn: Wir werden bis zum Ende des Sommers zirka 1,2 Milliarden Euro für syrische Flüchtlinge in der Türkei eingesetzt haben. Bis Jahresende gilt das Ziel von etwa zwei Milliarden Euro finanzielle Unterstützung für syrische Flüchtlinge in der Türkei. Das Geld geht über NGOs direkt an die Flüchtlinge, und wir kontrollieren die Verwendung auf das Genaueste. Es wird für Schulbesuche, Sprachkurse, qualitative medizinische und Nahrungsversorgung eingesetzt.

STANDARD: Gilt das auch für die EU-Vorbeitrittshilfen, die machen bis 2020 rund 4,5 Milliarden Euro aus. Kann man das einfrieren?

Hahn: Es sind 600 Millionen bis 700 Millionen Euro pro Jahr. Es gibt dazu rechtliche Vereinbarungen. Es ist das ja nicht Geld, das von uns einfach so auf Nummernkonten überwiesen wird. Es geht dabei um ganz konkrete Projekte, etwa um den Ausbau des Schienennetzes, um die Verbindungen nach Europa zu verbessern. Vieles davon ist in unserem eigenen Interesse. Es ist alles nicht so einfach, die zu stoppen. Ich verstehe die Emotionen, dass manche einen Schnellschuss riskieren wollen, aber meine nicht immer komfortable Aufgabe ist, die rechtsstaatlichen Prinzipien einzuhalten.

STANDARD: Welche Folgen hätte ein Bruch mit der Türkei?

Hahn: Das ist so eine Frage wie beim Brexit. Es hat das in der Form noch nicht gegeben. Es sind viele Projekte im Laufen, man müsste schauen, wie man die abwickelt und zu Ende bringt. Man sollte wissen, ein Teil der Vorbeitrittshilfen für die Türkei geht in die Finanzierung von NGOs.

STANDARD: Besteht die Gefahr, dass bei einem Bruch wieder hunderttausende Flüchtlinge über die Ägäis kommen?

Hahn: Nicht logischerweise, aus meiner Warte – es sei denn, das wird von türkischer Seite bewusst organisiert. Ich habe mehrere Male Ostanatolien besucht, und es zeigt sich dort, dass viele Syrer entweder dort bleiben wollen oder am liebsten in ihre Heimat zurückkehren würden, sobald es die Lage erlaubt. Die Türkei hat Anfang des Jahres sehr vorbildhaft die Möglichkeit geschaffen, dass syrische Flüchtlinge arbeiten dürfen. Wir wurden gebeten, Sprachkurse zu finanzieren. Von den Syrern gibt es eigentlich keinen Druck, nach Europa zu kommen.

STANDARD: Zu ergänzen wäre, dass die Balkanroute geschlossen ist.

Hahn: Ja, es hat sich auch bei Leuten, die aus Afghanistan oder aus Pakistan kommen, herumgesprochen, dass es nach der Durchreise durch die Türkei nicht weitergeht Richtung Europa.

STANDARD: Ist damit auch die österreichische Position bestätigt, die Balkanroute gemeinsam mit den Nachbarstaaten zu schließen? Die Kommission hat das noch vor ein paar Monaten heftig kritisiert.

Hahn: Da war eher die Frage des Timings und die mangelnde Abstimmung innerhalb der EU Gegenstand der Kritik. Aber in der Substanz ging es um den sinnvollen Aufbau von verschiedenen Modulen zu einer Lösung.

STANDARD: Hat die Kommission das inzwischen akzeptiert, die Grenzsperren auf dem Balkan, wird es da keine Klagen geben gegen Österreich?

Hahn: Es kann ja niemand leugnen, dass es funktioniert. Die unmittelbar betroffenen Balkanländer, Serbien und die ehemalige jugoslawische Republik Mazedonien haben sich vorbildhaft kooperativ verhalten. Und auch die anderen Balkanstaaten haben Vorkehrungen getroffen. Ich möchte dazusagen, dass ich nicht möchte, dass die Balkanländer, auf die ich einen besonderen Blick habe, zu einem Parkplatz werden, auf dem die Flüchtlinge sich weder nach vorn noch nach hinten bewegen können.

STANDARD: Was ist mit den Erweiterungsverhandlungen der Türkei. Bewegt sich da etwas, oder ist es damit jetzt vorbei?

Hahn: Die Vorarbeiten sind bis jetzt planmäßig gelaufen. Aber natürlich müssen die jüngsten Entwicklungen berücksichtigt werden. Und die Öffnung wichtiger Kapitel wie zum Beispiel 23 und 24 hängen vom Ausgang der Zypern-Gespräche ab.

STANDARD: Zur Wiedervereinigung der geteilten Inseln, laufen die Gespräche dazu derzeit überhaupt?

Hahn: Die laufen eigentlich gut. Zum Ende hin gibt es bei solchen Verhandlungen immer heikle Punkte, bei der Eigentumsrückübertragung und solchen Dingen. Da ist die Sache kompliziert. Wir hoffen dennoch, dass das bis Ende des Jahres funktionieren sollte.

STANDARD: Und die Visaliberalisierung für die Türkei, die für Anfang Juli geplant war?

Hahn: Es gibt dafür genau definierte Kriterien, die einzuhalten sind, an denen nicht zu rütteln ist. Alles was ich dazu höre, ist, dass die Türkei diese Kriterien nicht einhalten will oder kann. Daher frage ich mich, wie es funktionieren soll. Nur wenn alle 72 Benchmarks erfüllt sind, kann die Kommission einen positiven Bericht zur Visafreiheit abgeben. Dann haben das Parlament und der Rat zu entscheiden. Nur ein Vergleich: Die Ukraine hatte 140 Benchmarks zu erfüllen, und die hat es am Ende auch alle erfüllt. Es geht um Kohärenz und Gleichbehandlung. Es kann für die Türkei keine Sonderbehandlung geben, ebenso wenig wie es eine "türkische Variante" der Demokratie gibt. Das ist auch eine Frage der Glaubwürdigkeit.

STANDARD: Kann es sein, dass sich die vor 25 Jahren eingeschlagene Strategie der Union als Illusion erweist, wonach die Erweiterung ständig fortgesetzt wird, immer mehr Staaten Mitglied werden können und dann am Ende eine große einheitliche EU stehen wird? Stichwort Brexit, ab jetzt geht es um die Verkleinerung der EU?

Hahn: Das Erweiterungsthema ist jetzt gerade sicher nicht das zentrale Problem bei der Frage, wie wir in nächster Zukunft mit Europa umzugehen haben. Es gibt in dieser Kommissionsperiode keine Erweiterung. Das war schon vor dem Antritt der Juncker-Kommission klar, da die Transformation ganzer Gesellschaften eben ihre Zeit braucht. Die wichtigere Frage ist, wie finden wir zur Normalität zurück? Im Moment gibt es eine schizophrene Haltung zwischen emotionaler Ablehnung und rationaler Zustimmung zur EU. Das sehen wir in Österreich mittlerweile seit Jahren. Es gibt emotional eine gewisse Ablehnung. Aber das Schutzbedürfnis in Verbindung mit der EU liegt bei 70 Prozent, wenn man die Bürger befragt. Es ist den meisten Bürgern klar, dass man die großen Herausforderungen unserer Zeit wie Terrorismus, Migration etc. nur gemeinsam bewältigen kann.

STANDARD: Wie finden wir zurück zur Normalisierung?

Hahn: Man kann sicher nicht einfach irgendeinen Schalter umlegen und dann sagen: Wir sind saniert. Dieser Prozess ist weniger ein institutionelles Problem der EU, sondern eine Frage des ehrlichen Umgangs der verantwortlichen Politiker mit Europa. Wo immer man hinkommt, sagen nationale Politiker, wir müssen aufhören, Brüssel für alle Fehler verantwortlich machen, die auf nationaler Ebene passiert sind. Aber dieser Erkenntnis müssen auch konkrete Taten folgen.

STANDARD: Zur Erweiterung: Besteht die Gefahr, dass man aufgrund der aktuellen Krise der Union die Staaten auf dem Balkan verliert, weil niemand jetzt neue Mitgliedsländer aufnehmen will?

Hahn: Die Sorge der Beitrittsländer war nach der Brexit-Abstimmung, dass wir sie jetzt nicht mehr wollen. Anfang Juli beim jährlichen Westbalkangipfel war das das zentrale Thema. Aber der Westbalkan ist strategisch für die Union sehr wichtig, am Ende des Tages müssen diese Länder Mitglied werden. Und diese Beitrittsperspektive wurde am Westbalkangipfel erneut bekräftigt.

STANDARD: Aber diese konkrete Beitrittsperspektive gibt es seit 2003, wie lange soll das noch dauern, noch einmal 15 Jahre?

Hahn: Es wird am Ende meine Kunst sein müssen, Anreize und Forderungen in Balance zu halten. Das muss man sehr konkret sehen. Diese Woche ist es gelungen, mit Serbien die zwei Verhandlungskapitel zur Rechtsstaatlichkeit, zu Grundrechten und zur Justiz (23 und 24) zu eröffnen, das ist ein wichtiger Durchbruch gewesen. Wir haben in Albanien am Donnerstag die bisher umfassendste Justizreform in Albanien auf den Weg gebracht. Auch in der ehemaligen jugoslawischen Republik Mazedonien gab es einen äußerst wichtigen Fortschritt zur Umsetzung der Pržino-Vereinbarung, die das Land hoffentlich nachhaltig aus der politischen Krise führen wird. Also, es war eine gute Woche für mich und für die Erweiterung.

STANDARD: Das fällt auf, Rechtsstaatlichkeit und Korruption scheinen die wichtigsten Probleme zu sein bei EU-Erweiterungen, da hat man in der Vergangenheit oft zu nachlässig gehandelt, siehe Ungarn und Polen. Stimmt das?

Hahn: Ich kritisiere nicht meine Vorgänger. Jede Zeit hat ihre speziellen Probleme. 2004 hat es eine wahnsinnige Erweiterungsbegeisterung gegeben, man hat das als Schlussstein der Entwicklungen seit 1989 gesehen. Und es war eingebettet in eine wirtschaftliche Boomphase. Es wurde bei der Rechtsstaatlichkeit verabsäumt, die unterschiedlichen "Unternehmenskulturen" der Staaten zusammenzuführen. Man dachte wahrscheinlich, das regelt sich schon von selbst. Deshalb wurde auch die Methodologie geändert. Wir beginnen nun die Verhandlungen mit den Kapiteln zur Rechtsstaatlichkeit und beenden sie auch damit.

STANDARD: Sie sind jetzt noch dreieinhalb Jahre Erweiterungskommissar, was ist ihr Ziel bis Ende 2019? Möchten Sie die Beitrittskandidaten mit einem Zeitplan an die nächste Kommission übergeben?

Hahn: Es gibt generelle und konkrete Zielsetzungen. Generell habe ich schon erreicht, dass man der wirtschaftlichen Entwicklung gleichwertige Bedeutung einräumt wie dem Rechtsstaat. Es gibt in ganz Europa heute eine Beitrittsmüdigkeit, das braucht man gar nicht wegzudiskutieren, auch weil eine Generalannahme besteht, dass jedes neue Mitglied eine neue finanzielle Belastung für die anderen ist. Alle Länder des Ostblocks und des ehemaligen Jugoslawiens im Tito-Regime waren wirtschaftlich nicht leistungsfähig, die Industrie war dort meistens grundstofflastig, stark in der Schwerindustrie. Die müssen sich auf eine breitere Basis stellen, und das müssen wir forcieren. Dazu müssen wir Investoren anziehen. Aber Klein- und Mittelbetriebe kriegt man in einem Land nur, wenn auch die Rechtsstaatlichkeit funktioniert, wenn man sich auf die lokale Gerichtsbarkeit verlassen kann. Diesen Übergang müssen wir organisieren: Aufbau der wirtschaftlichen Entwicklung, das muss einhergehen mit der Entwicklung der Rechtsstaatlichkeit. Diese starke Verknüpfung der beiden politischen und ökonomischen Grundwerte habe ich vorgenommen. Ich hoffe, es wird daraus ein irreversibler Prozess.

STANDARD: Wie ist das bei Serbien konkret? Ist das Land so etwas wie der Schlüssel zur Balkanerweiterung? Es ist das größte Land, prägt die Region.

Hahn: Serbien ist in jeder Hinsicht ein spezieller Fall. Erstens ist es das zentrale Land auf dem Balkan, wie Sie richtig sagen, und leistet auch einen wichtigen Beitrag zum "Berlin-Prozess", der ja neben der Realisierung gemeinsamer Projekte auf dem Balkan der so wichtigen Wiederversöhnung dient. In vielen Bereichen kann Serbien Impulsgeber für die gesamte Region sein. Aber natürlich können Sie die emotionale Verfassung der Bevölkerung nicht ignorieren. In Skopje müssen wir das Namensthema Mazedonien angehen, das werden wir auch tun. Und selbst in Bosnien-Herzegowina gehen Dinge weiter. Die Dynamik passt.

STANDARD: Kommen wir zu Großbritannien, zum Brexit. Die Union verliert einen großen Nettozahler. Brauchen wir jetzt ein Kerneuropa, so wie Jacques Delors dies 1989 konzipiert hatte, mit einem Europäischen Wirtschaftsraum drum herum, in dem Länder eine lockerere Integration mit der EU haben?

Hahn: Ich würde lieber von Arrondierung als von Erweiterung sprechen, wenn ich vom Westbalkan spreche. Denn diese Länder sind Teil Europas und sollten selbstverständlich auch Teil der Union sein. Vor dem Hintergrund der globalen Herausforderungen brauchen wir ein in sich konsolidiertes Europa. Es sind sich alle im Klaren, dass die Migrationsproblematik – nicht nur die Flüchtlinge – das zentrale Thema der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts sein wird. In erheblichem Maß wird Europa davon betroffen sein. Ein anderes gutes Beispiel dafür, was erreichbar ist, wenn Europa konsolidiert handelt, wenn wir koordiniert auftreten, ist der Klimawandel, das was man beim Klimagipfel in Paris erreicht hat. Es kann uns eben nicht egal sein, wie sich so ein Thema global entwickelt. Einfluss darauf haben wir aber nur, wenn wir mit 500 Millionen Menschen im Rücken auf der Weltbühne auftreten.

STANDARD: Aber gerade beim Migrationsthema sieht man doch, dass das gesamteuropäisch im Moment nicht zu machen ist. Die Osteuropäer verweigern sich gemeinsam, Großbritannien hat deswegen sogar für den EU-Austritt gestimmt. Kerneuropa kann das vielleicht, aber nicht alle 28 beziehungsweise demnächst 27 Länder.

Hahn: Ein Manager würde sagen, ja, man kann einen Teil seines Unternehmens abgeben, Umsätze abgeben, um zu konsolidieren, um später daraus wieder zu wachsen. Aber da sehe ich den ganz klaren Unterschied zur Politik. Man kann die Wirtschaft nicht eins zu eins auf die Politik übertragen. Wenn wir jetzt Teile der Union abgeben, ganze Länder, dann verlieren wir sie, und die Union verliert als Ganzes. Das war ein Grund, warum ich für den Verbleib von Griechenland gekämpft habe. Manche hatten die Idee, lassen wir Griechenland einmal ausscheiden, aus der Eurozone rausgehen, damit sie sich von sich aus erholen. Wenn man ein Kerneuropa schafft, dann wird das vielleicht wie ein Turbo funktionieren, aber gleichzeitig wird sich die Dynamik rundherum deutlich abschwächen, und der Gegensatz wird größer. Am Ende muss das Turbokerneuropa diesen Ländern erst recht wieder helfen. Aber der politische und gesellschaftliche Preis wäre höher. Mein Ansatz ist zu schauen, dass alle an Bord bleiben. Das ist aktuell sicher viel mühsamer, aber so kann man es unter dem gemeinsamen Deckmantel entwickeln. Wobei die Gleichbehandlung kleiner und großer Länder ein wichtiger Faktor für den Zusammenhalt ist.

STANDARD: Wie wird man die Trennung von Großbritannien machen, was dürfte da herauskommen?

Hahn: Wir haben eine gute Chance, dass wir am Ende freundschaftlich miteinander weiterarbeiten, wenn die Verhandlungen auf beiden Seiten sachlich und fair geführt werden. Das kann durchaus hart ablaufen. Vielleicht werden wir sogar eine bessere Zusammenarbeit haben als bisher. Die Briten sind für uns in vielerlei Hinsicht ein Wert, sie haben wahrscheinlich das beste internationale Netzwerk von allen Staaten, wenn man das global sieht. Es gibt da also für beide Seiten Vorteile.

STANDARD: Könnte in der großen Linie am Ende in etwa das herauskommen, was der abgetretene Premier David Cameron an Ausnahmen beim EU-Gipfel im Februar herausgehandelt hat: Die Briten bleiben als engster Partner im Prinzip im Binnenmarkt, nehmen aber an der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik nicht teil, auch nicht bei Schengen und bei der gemeinsamen inneren Sicherheit und Justiz?

Hahn: Des hängt ganz von den Verhandlungen ab. Ein Teil der Brexit-Kampagne war, dass die Personenfreizügigkeit eingeschränkt werden soll. Wenn das nach wie vor Thema ist, dann wird der Binnenmarkt mit Großbritannien nicht möglich sein. Wir können nicht den Briten bei der Freizügigkeit etwas zugestehen, was für die EU-27 nicht gilt, dann wären wir unsere eigenen Totengräber.

STANDARD: Soll man versuchen, die Briten im Binnenmarkt zu halten?

Hahn: Natürlich wäre das sinnvoll. Aber das liegt an den Briten. Man kann nicht die Personenfreizügigkeit einschränken wollen, aber gleichzeitig die wirtschaftliche Freizügigkeit für sich in Anspruch nehmen. (Thomas Mayer, 25.6.2016)