Wie viele Menschen in Österreich Besuch vom Gerichtsvollzieher bekommen, ist nicht bekannt. Nicht selten sind es solche, die ein bisschen den Überblick verloren haben, was sie wem wann schulden.

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STANDARD: Seit langem haben wir wieder einen Anstieg bei Unternehmenspleiten. Grund zur Sorge?

Kantner: Nein. Das Niveau eines gesunden Verhältnisses von Pleiten zu Neugründungen liegt etwa bei einem Prozent der Unternehmenspopulation. Wir liegen in Österreich bei 1,3 Prozent. Das kann und soll nicht auf null zurückgehen. Wir haben seit zehn, fünfzehn Jahren eine Gründerwelle. Anfangs hat man gesagt, das sind Scheinselbstständige. Ich glaube, diese Zeiten sind vorbei.

STANDARD: Deutet das darauf hin, dass der Standort Österreich nicht so abgesandelt ist wie befürchtet?

Kantner: Ich orte großen Reformbedarf im Verhältnis zwischen dem Staat und seinen Bürgern. Obwohl wir demnächst in Österreich 100 Jahre Abschied von Habsburg haben, steckt uns dieser kaiserliche Staat noch in den Gliedern. Man muss den Menschen vermitteln, dass der Staat wir sind, und den Beamten, dass sie Dienstleister an den Menschen und der Wirtschaft sind und nicht Vertreter eines hoheitlichen Gottesgnadentums.

STANDARD: Wir hatten auch vor 1900 eine Gründerzeit. Nun wird hier oft mangelnder Gründergeist beklagt. Wie anderswo sieht man ein Vorbild im Silicon Valley. Was können wir uns abschauen?

Kantner: Alle wollen ein Silicon Valley. Ich glaube, der Spirit ist da. Ich sehe mit Interesse die Start-up-Show "2 Minuten, 2 Millionen." Dort sitzen echte Wirtschaftslenker. Ich glaube nicht, dass sie das machen, weil sie besonders tolle Renditen erwarten, sondern weil sie ihren Beitrag leisten wollen. Die einen haben Ideen, die anderen Geld. Für jene, die viel haben, ist es auch ein Auftrag, sich zu überlegen, was damit ermöglicht werden soll.

STANDARD: Auch der Staat soll ermöglichen. In der Wirtschaft wird er derzeit eher als Verhinderer beklagt. Zu Recht?

Kantner: Ich will nicht sagen, dass in den letzten 20 Jahren gar nichts passiert ist. Aber zu zögerlich. Seit Jahren rittern wir gegen die Gesellschaftssteuer – zwei Prozent auf Gesellschaftskapital. Vor zehn Jahren wurde sie halbiert, statt sie abzuschaffen, um das Signal auszusenden: Investiert in unternehmerische Substanz. Dort bringt es am meisten für den Standort und die Menschen. Die Österreicher haben genug Geld. Erst seit 2016 ist die Steuer Geschichte.

STANDARD: Sie sagen, die Menschen haben genug Geld. Manche geben mehr aus, als sie haben. Vor allem junge Menschen häufen laut Schuldnerberatungen bemerkenswert hohe Schulden an. Können sie nicht mehr mit Geld umgehen?

Kantner: Wir leben in einer Plastikzeit. Die Unsichtbarkeit des Geldes begünstigt das. Viele Kinder glauben, dass das Bargeld aus dem Bankomaten kommt wie Wasser aus dem Hahn. Es ist heute als junger Mensch auch einfach, sich innerhalb eines gewissen Rahmens etwas auf Kredit zu finanzieren. Vielleicht ist nicht jeder mit 18 so weit, alles verantwortlich beurteilen zu können. Und man sieht, was andere alles haben.

STANDARD: Die Arbeitslosigkeit ist kräftig gestiegen, die Zahl der Privatkonkurse gerade nicht. Warum?

Kantner: Zwischen dem Eintritt der Zahlungsunfähigkeit und dem Antrag auf Schuldenregulierungsverfahren vergehen oft Jahre.

STANDARD: Die Menschen gehen zumeist zu spät in Privatkonkurs?

Kantner: Ja. Wir weisen seit geraumer Zeit darauf hin, dass es wichtig wäre, die Schuldner zu beraten – nicht nur, dass sie eine Rechtspflicht haben, sondern auch, dass es ihnen ebenfalls Vorteile bringt. Der Konkurs schützt den Schuldner vor Klagen, Exekutionen, Verzugszinsen, vor einem Anwachsen der Schulden. Mit der Konkurseröffnung werden die Schulden eingefroren.

STANDARD: Sollte man die Mindestquote abschaffen? Deutschland oder die USA haben keine.

Kantner: Die Schuldnerberater sagen, die Leute würden sich dann nicht mehr fürchten, sie würden kommen und Konkurs beantragen. Das klingt plausibel. Die Zahlen in Deutschland zeigen aber, dass es nicht so ist. Der große Unterschied: In Deutschland bekommen die Gläubiger so gut wie nie Geld. In Österreich haben wir rund 75 Prozent Zahlungspläne, also eine mehrheitlich angenommene Einigung zwischen Schuldnern und Gläubigern.

STANDARD: Diskutiert wurde ein amtswegiges Konkursverfahren. Man ließ es wieder fallen. Warum?

Kantner: Beim Exekutionsverfahren wird mit staatlicher Macht eine Forderung durchgesetzt. Das funktioniert so lange gut, als der, gegen den ich diese Forderung durchsetzen kann, in der Lage ist, sie zu erfüllen. Kann jemand nicht, ist das Exekutionsrecht fehl am Platz. Durch Amtswegigkeit gäbe es viele Exekutionen nicht mehr, die ins Leere gehen. Man hat es deswegen verworfen, weil es noch kein griffiges Modell gab, so ein Verfahren einzuschleifen.

STANDARD: Wie beurteilt man Zahlungsunfähigkeit?

Kantner: Es gab Vorstellungen, wie man das beurteilen könnte. Wir wissen aber, wir haben mindestens 100.000, vielleicht mehr Menschen in Österreich, auf die das zutrifft. Was machen wir mit ihnen, wenn sie plötzlich innerhalb kurzer Zeit in ein Insolvenzverfahren kommen, vielleicht ohne es zu wollen? Wir haben ein Entschuldungsverfahren für jene, die etwas leisten können und wollen.

STANDARD: Stichwort wollen. Wie sieht der typische Schuldner aus, der Besuch von einem Exekutor erhält?

Kantner: Rund die Hälfte der Exekutionen werden schlampige, säumige, aber durchaus zahlungsfähige Personen betreffen. Es gibt Leute, die bekommen ein Strafmandat und werfen es in eine Lade. Wissend, dass davon nichts besser wird. Das kann zur Gehaltsexekution führen. Kostet dann das Doppelte. Ich kann nur empfehlen: Zahlt Strafmandate gleich und ohne Murren. Als Jurist sage ich: Die Strafe, die man gerne absitzt, hat einen Teil ihrer Wirkung verfehlt. Sie soll nicht nur den Täter, sondern auch andere potenzielle Täter abschrecken. Daher müssen Strafen wehtun.

STANDARD: Deswegen sind die Inkassogebühren so hoch – zu hoch, wie manche finden.

Kantner: Inkassogebühren haben dort, wo sie hoch genug sind und bei denen, die zahlen können, einen erzieherischen Effekt. Spitzenreiter bei der Zahlungsmoral in Europa sind die Finnen, die Schweden, die Norweger, die Deutschen, und wir Österreicher spielen ganz vorne mit. Es gibt aber auch einen offensichtlich kulturellen Schlendrian. (Regina Bruckner, 25.7.2016)