Wien – Auf dem Weg zur Arbeit entdeckt eine junge Frau (Lilith Stangenberg) eines Morgens in einem Park einen Wolf. Von dem wilden Tier fasziniert, versucht Ania den Wolf zu fangen – mit Erfolg. Eingesperrt in einem Nebenzimmer ihrer Wohnung, mitten in einer Plattenbausiedlung, bestimmt der Wolf bald zur Gänze das Leben Anias, die sich von ihrer Umwelt – darunter Georg Friedrich in der Rolle ihres Chefs – zunehmend zurückzieht.

In ihrem dritten Spielfilm geht die deutsche Regisseurin Nicolette Krebitz der Frage nach, wie viel Tier im Menschen steckt.

Verwandlung oder Nachahmung? Die Tierwerdung bedeutet in "Wild" für Ania (Lilith Stangenberg) eine Befreiung aus der Zwängen einer Gesellschaft, die ihr keinen Halt mehr bietet.
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STANDARD: Ihr Film erzählt von einer bemerkenswerten kulturgeschichtlichen Umkehrung: Nicht der Wolf wird domestiziert, sondern die Frau wird "wild". Steht der Wolf für einen bestimmten Mythos?

Krebitz: Man kann sich den Film auf verschiedene Art und Weise ansehen. Die Geschichte ist aber eigentlich ganz konkret gemeint: Eine Frau trifft einen Wolf im Park und verliebt sich in ihn. Er ruft etwas in ihr wach, was bis dahin geschlummert hatte, und plötzlich ist nichts mehr wie vorher. Alles, was an Metaphern und Symbolik darüber hinaus zu finden ist, kann jeder so lesen, wie er möchte.

STANDARD: Was genau löst diese Begegnung bei der Frau aus?

Krebitz: Sie entwickelt eine eigene Stimme. Sie sagt, was sie sagen möchte und was sie braucht. Das ist es auch, wofür sie den Wolf bewundert. Denn egal wie sich Natur und die Umwelt verändern – der Wolf bleibt immer er selber.

STANDARD: Die Begegnung mit dem Wolf ist der Beginn eines Prozesses. Man hat jedoch den Eindruck, als gäbe es hier eine Art von Disposition als Außenseiterin, die diese Figur mitbringt.

Krebitz: Man kann immer alles psychologisieren, das Freud'sche Ich und das Es, die sich gemeldet haben und weshalb man so oder so gehandelt hat. Aber in dem Moment, in dem man es erlebt, nützt einem die Psychologie nicht viel. Diese Begegnung hat etwas Unberechenbares, und Ania betritt in diesem Augenblick völlig neuen Boden. Der Film ist der Versuch, das auf die Essenz zu bringen. Aber am meisten interessiert mich das, worauf man den Finger nicht halten kann.

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STANDARD: Und das wäre?

Krebitz: Das kann man nicht erklären, sonst könnte man ja den Finger draufhalten. All das, was in der Kunst passieren kann – und in der Liebe. Oder in der Lust und im Verbrechen. Das ist ein Moment der Anarchie, der nicht zu halten ist. Ich kann versuchen, diesen Moment psychologisch oder philosophisch zu erklären, aber eigentlich interessiert mich das Erleben dieses Moments. Für den Film bedeutet das für mich, dass jemand ins Kino geht und etwas erlebt, was er sonst nicht erleben würde. Wie haben denn Sie sich gefühlt, als der Film vorbei war?

STANDARD: Ich war irritiert.

Krebitz: Warum?

STANDARD: Weil die Annäherung dieser Frau an das Tier zunehmend mit einer Nachahmung einhergeht. Und weil es einen Unterschied macht, ob man das als Experiment im Sinne einer Rückkehr in die Natur anlegt oder eben radikal zu Ende führt.

Krebitz: Ich glaube, es geht gar nicht so sehr um Nachahmung, sondern um Verwandlung. Ein ganz archaisches Ritual; der Jäger verwandelt sich in seine Beute. Die Protagonistin in Wild gibt sich dieser Begegnung hin und entdeckt eine eigene Kraft.

STANDARD: Ausgerechnet die Frau, die einen Wolf gefangen nimmt, wirkt selbst wie eine Gefangene. Ihr Büro wirkt wie eine mit Schreibtisch ausgestattete Gefängniszelle.

Krebitz: Ja. Und sie ist nicht die Einzige. Ihrem Chef, den man in seinem Zimmer auf und ab tigern sieht, geht es ähnlich. Er verbirgt anscheinend eine ganz ähnliche Sehnsucht in sich und beobachtet Ania fassungslos dabei, wie sie ausgelebt werden kann.

STANDARD: Der einzige Mensch, für den diese Frau Empathie empfindet, ist ihr sterbenskranker Großvater. Auch hier gibt es eine Verschiebung: Die Verschlechterung seines Zustands geht mit ihrer Befreiung einher. Hier das Koma, dort das Erwachen...

Nicolette Krebitz (43) ist Schauspielerin, Drehbuchautorin, Musikerin und Filmemacherin. Mit "Jeans" (1999) drehte sie ihr Regiedebüt, 2008 entstand "Das Herz ist ein dunkler Wald". Als Schauspielerin erhielt sie zweimal den Grimme-Preis.
Foto: Heribert Corn

Krebitz: Jemanden zu verlieren ist natürlich schmerzhaft. Aber manchmal ist man in der Lage, einen Verlust in eine Chance zu verwandeln. Für diese Frau hat die Geschichte ein gutes Ende. Sie findet selbst heraus, wie es weitergeht. Es ist also eine Erweckungs-, Befreiungs- und Selbstfindungsgeschichte. Das klingt ganz schön hippiemäßig, aber all das muss man wahrscheinlich leisten, um ein zufriedener Mensch werden zu können. Und in diesem Sinn ist der Film eine Erfolgsgeschichte.

STANDARD: Die Darstellung des Tiers ist seit jeher ein Topos der Filmgeschichte, der fast immer vom Fremden im Vertrauten erzählt – und umgekehrt. Sehen Sie Ihren Film in dieser Tradition?

Krebitz: Das Tier im Film hat schon immer für Interpretationen herhalten müssen, sogar wenn man an die Vampirfilme der jüngsten Vergangenheit wie Twilight denkt. Ich habe versucht, demgegenüber ein möglichst klares Bild von einem Wolf zu zeigen, das nichts mit Kitsch und Vollmond zu tun hat. Ich bewundere den Wolf einzig und allein dafür, dass er evolutionsgeschichtlich so viele Welten gesehen hat und dabei immer er selbst geblieben ist.

STANDARD: Um noch mal auf den Schluss zurückzukommen: Wohin gelangt Ania am Ende?

Krebitz: Der zweite Teil von Wild ist das, was der Zuschauer aus dem macht, was Wild in ihm ausgelöst hat. Es braucht keinen zweiten Film. Nur Mut, und dann bin ich mir sicher, es bleibt spannend. (Michael Pekler, 22.7.2016)