Ankara – Nach dem gescheiterten Militärputsch in der Türkei hat die Regierung nun die Verhängung des Ausnahmezustands für drei Monate beschlossen. Präsident Recep Tayyip Erdoğan beruft sich dabei auf Artikel 120 der Verfassung. Dieser erlaubt den Schritt bei "weitverbreiteten Gewaltakten zur Zerstörung der freiheitlich-demokratischen Ordnung" oder bei einem "gravierenden Verfall der öffentlichen Ordnung".

Bei einem Ausnahmezustand können Grundrechte eingeschränkt oder ausgesetzt werden. Das Kabinett kann unter Vorsitz des Präsidenten Dekrete mit Gesetzeskraft erlassen. Diese Erlasse werden zunächst im Amtsblatt veröffentlicht und am selben Tag dem Parlament zur Zustimmung vorgelegt. Gegen die Dekrete kann nicht vor dem Verfassungsgericht vorgegangen werden. Eine Auswahl von Maßnahmen, die das Kabinett unter Erdoğan nun beschließen kann, aber nicht muss:

  • Ausgangssperren können verhängt werden.
  • Der Fahrzeugverkehr kann zu bestimmten Zeiten oder in bestimmten Gegenden verboten werden.
  • Versammlungen und Demonstrationen können verboten werden, sowohl unter freiem Himmel als auch in geschlossenen Räumen.
  • Sicherheitskräfte dürfen Personen, Fahrzeuge und Anwesen durchsuchen und mögliche Beweismittel beschlagnahmen.
  • Bestimmte Gegenden können abgeriegelt oder evakuiert werden.
  • Der Verkehr zu Land, See und Luft kann kontrolliert werden.
  • Druckerzeugnisse wie Zeitungen, Magazine und Bücher können verboten oder mit der Auflage versehen werden, dass sie nur mit Genehmigung erscheinen dürfen.
  • Alle Arten von Rundfunkausstrahlung und die Verbreitung von Texten, Bildern, Filmen und Tönen können kontrolliert und nötigenfalls eingeschränkt oder ganz verboten werden.

Nach Angaben des stellvertretenden Ministerpräsidenten Mehmet Şimşek sollen nicht alle diese Möglichkeiten ausgeschöpft werden: Weder die Pressefreiheit noch die Versammlungs- und die Bewegungsfreiheit würden eingeschränkt.

Theoretisch kann das Kabinett den Ausnahmezustand im ganzen Land oder in Teilen davon für maximal sechs Monaten verhängen. Der Beschluss muss im Amtsblatt veröffentlicht und ans Parlament übermittelt werden. Das Parlament kann die Dauer des Ausnahmezustands verändern, ihn aufheben oder ihn auf Bitte des Kabinetts um je vier Monate verlängern. Jahrelangen Ausnahmezustand gab es früher in mehrheitlich kurdischen Provinzen im Südosten. Dieser war zuletzt Ende 2002 in den Provinzen Diyarbakır und Şırnak aufgehoben worden.

Folgende Voraussetzungen gelten auch während des Ausnahmezustands:

  • Verpflichtungen nach internationalem Recht sowie das Recht auf Leben (außer bei rechtmäßigen Kriegshandlungen) dürfen nicht verletzt werden.
  • Niemand darf gezwungen werden, seine Religionszugehörigkeit, sein Gewissen, seine Gedanken oder seine Meinung zu offenbaren, oder deswegen bestraft werden.
  • Strafen dürfen nicht rückwirkend verhängt werden.
  • Auch im Ausnahmezustand gilt die Unschuldsvermutung.

Debatte um Nato-Mitgliedschaft

Diskutiert wird derzeit, welche Auswirkungen die im Rahmen des Ausnahmezustands verhängten Maßnahmen auf die Nato-Mitgliedschaft der Türkei haben. Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg rief die Türkei zur Wahrung rechtsstaatlicher Grundsätze auf. "Als Teil einer einzigartigen Wertegemeinschaft" sei es unverzichtbar, dass die Türkei wie alle anderen Nato-Mitglieder "uneingeschränkten Respekt vor der Demokratie und ihren Institutionen, der Verfassungsordnung, der Rechtsstaatlichkeit und Grundfreiheiten" übe, erklärte Stoltenberg am Montag. Andererseits hat die Nato früher bereits bei einem Militärputsch in der Türkei und auch in Griechenland ein Auge zugedrückt.

Auch nach dem Ende des Kalten Krieges ist das Interesse an einem starken Nato-Mitglied an der Südostflanke Europas enorm groß – zumal das Land über den Bosporus auch den für Russland wichtigen Zugang vom Mittelmeer zum Schwarzen Meer kontrolliert. Die USA seien ernsthaft erschrocken, als die Türken am Wochenende für 24 Stunden auch den Stützpunkt Incirlik blockiert habe, sagt Marc Pierini von der Carnegie-Stiftung für internationalen Frieden zur Nachrichtenagentur Reuters. In Malatya sei zudem ein Radar des Nato-Raketenabwehrsystems aufgebaut worden. Das macht es aus Nato-Sicht wenig wahrscheinlich, dass man die Eskalation suchen wird: Man braucht die Türkei.

"Wir dürfen nicht verkennen, dass auch die Türkei auf die enge Zusammenarbeit mit ihren Partnern angewiesen bleibt", ist auch der deutsche SPD-Außenpolitiker Rolf Mützenich überzeugt. "Im regionalpolitischen Umfeld gibt es derzeit für die Türkei keine anderen belastbaren Alternativen." (red, 21.7.2016)