Präsident Erdoğan ruft den Ausnahmezustand aus.

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Ankara/Istanbul – Nach der Verhängung des Ausnahmezustands hat die Türkei nun angekündigt, die Europäische Menschenrechtskonvention vorübergehend aussetzen zu wollen. Diese Entscheidung gab der stellvertretende Ministerpräsident und Regierungssprecher Numan Kurtulmuş am Donnerstag bekannt, wie der Fernsehsender NTV berichtete.

Rechtlich gesehen handelt es sich um eine logische Konsequenz, da die meisten Maßnahmen des Ausnahmezustands der Menschenrechtskonvention widersprechen. Auf Twitter wies Mehmet Şimşek, ebenfalls Vizepremier, Kritik zurück und verwies darauf, dass Frankreich erst kürzlich die gleiche Entscheidung getroffen habe.

Erst in der Nacht auf Donnerstag war ein dreimonatiger Ausnahmezustand in Kraft getreten, noch am Donnerstag sollte sich das Parlament damit befassen. Es kann die Dauer der Maßnahme verändern oder sie aufheben, womit aber angesichts der klaren Mehrheit der Regierungspartei AKP nicht zu rechnen ist. Die Aufhebung des Ausnahmezustands stellte Kurtulmuş für in ein bis eineinhalb Monaten in Aussicht.

Präsident Recep Tayyip Erdoğan hatte den Ausnahmezustand in der Nacht nach einer Sondersitzung des Nationalen Sicherheitsrats und der Regierung in Ankara verkündet. Er sei notwendig, um rasch "alle Elemente entfernen zu können", die in den Putschversuch verstrickt seien. Der Putschversuch sei "vielleicht noch nicht vorbei", es könne "weitere Pläne geben". Seine Anhänger rief Erdoğan zu Kundgebungen auf. In einer an sämtliche Handys des Landes versandten Kurzmitteilung forderte er dazu auf, sich weiter auf der Straße den "Terroristen" entgegenzustellen.

Per Dekret

Unter dem Ausnahmezustand kann der Staatspräsident weitgehend per Dekret regieren. Grundrechte wie die Versammlungs- und die Pressefreiheit können ausgesetzt oder eingeschränkt werden. Die Behörden können beispielsweise Ausgangssperren verhängen und Medienberichterstattung kontrollieren oder verbieten. Die Maßnahme zielt auf Anhänger des Predigers Fethullah Gülen ab, den Erdoğan für den Putschversuch verantwortlich macht.

Der stellvertretende Ministerpräsident Kurtulmuş erklärte in der Nacht laut der Nachrichtenagentur Anadolu, die Befugnis zur Erlassung von Dekreten solle vor allem im Kampf gegen Gülen-Anhänger genutzt werden. Kurtulmuş sprach von einer "Parallelstruktur" – ein Begriff, den die türkische Regierung für die Gülen-Bewegung benutzt. "Der Ausnahmezustand wird nur dazu genutzt, die Parallelstruktur zu bekämpfen", sagte Kurtulmuş. Das alltägliche Leben der Bürger werde nicht beeinflusst, auch die Arbeit des Parlaments bleibe davon unberührt.

"Kurz halten"

Der deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier forderte die Türkei auf, den Ausnahmezustand auf möglichst kurze Zeit zu begrenzen. Er müsse "auf die unbedingt notwendige Dauer beschränkt und dann unverzüglich beendet" werden, sagte Steinmeier am Mittwochabend. "Alles andere würde das Land zerreißen und die Türkei schwächen, nach innen wie nach außen."

Türkische Spitzenpolitiker versuchten zu beruhigen: Ministerpräsident Binali Yıldırım teilte auf Twitter mit, der Ausnahmezustand sei nicht gegen das alltägliche Leben der Menschen gerichtet. Erdoğan versuchte gleich in mehreren nächtlichen Ansprachen an das Volk, Bedenken zu zerstreuen. "Habt keine Sorge", sagte Erdoğan. "Es wird im Ausnahmezustand definitiv keine Einschränkungen geben. Das garantieren wir." Der Ausnahmezustand sei zum Schutz der Bevölkerung und "definitiv nicht gegen Rechte und Freiheiten" gerichtet. Ziel sei es, die Demokratie und den Rechtsstaat wiederherzustellen. "Wir werden von der Demokratie keinen Schritt abweichen."

Erdoğan wies Kritik aus der EU an seinem Kurs zurück. Mit Blick auf Frankreich sagte er, auch europäische Länder hätten bereits bei weniger gravierenden Anlässen den Ausnahmezustand verhängt. "Sie haben definitiv nicht das Recht, die Türkei zu kritisieren."

Weiter Debatte um Wiedereinführung der Todesstrafe

Trotz Kritik aus der EU hat Erdoğan zudem seine Bereitschaft zur Wiedereinführung der Todesstrafe bekräftigt. "Die Welt ist nicht nur die Europäische Union." In den USA, Russland, China und anderen Ländern gebe es die Todesstrafe auch. "Seit 53 Jahren klopfen wir an die Tür der EU, und sie haben uns 53 Jahre warten lassen", kritisierte Erdoğan. Wenn das türkische Parlament eine Verfassungsänderung zur Wiedereinführung der Todesstrafe beschließe, dann werde er sich dem nicht entgegenstellen: "Ich werde sie billigen."

Über die Anhänger Gülens sagte Erdoğan: "Egal wohin sie fliehen, wir sind ihnen auf den Fersen." Er forderte von den USA erneut die Auslieferung Gülens und kündigte weitere Verhaftungen an. Es seien bereits zahlreiche Menschen in Gewahrsam genommen worden, so Erdoğan. "Wir sind aber noch nicht am Ende angekommen." Seit dem Putschversuch vom Freitag wurden etwa 60.000 Soldaten, Polizisten, Beamte, Richter und Lehrer suspendiert oder verhaftet oder es wurden Ermittlungen gegen sie aufgenommen.

Festnahmen wegen Einträgen in sozialen Medien

Auch bei entsprechenden Einträgen in sozialen Medien muss man derzeit mit Besuch der Polizei rechnen. In mehreren türkischen Städten seien sieben Personen festgenommen worden, die den Putschversuch gelobt oder Erdoğan kritisiert hatten, meldete unter anderen CNN Türk. Ihnen werde unter anderem vorgeworfen, mit Einträgen in sozialen Medien "die verfassungsmäßige Ordnung gestört", "Kriminelle gelobt" oder Erdoğan beleidigt zu haben.

Bei dem Putschversuch waren rund 300 Menschen getötet und mehr als 1.400 verletzt worden. Die türkische Regierung hat nun angekündigt, dass die "getöteten Putschisten" keine religiöse Bestattung bekommen dürfen; Imamen wurde die Teilnahme an den Begräbnissen untersagt. Der Leiter der Religionsbehörde Diyanet, Mehmet Görmez, habe gesagt, dass Putschisten nicht den "Freispruch und die Gebete" ihrer Glaubensgeschwister verdient hätten. Tote Soldaten, die zu der Teilnahme an der Revolte gezwungen worden seien, sollen von der Anweisung nicht betroffen sein. (APA, red, 21.7.2016)