Fünf Kilometer also. Das, so hatte Sandrina Illes es niedergeschrieben, sei der krönende Abschluss der Laufeinheiten in meinem Wochentrainingsplan. Fünf Kilometer. Wenn ich zurückblättere und nachsehe, was noch vor vier Monaten an dieser Stelle im Plan gestanden hatte, schwanke ich zwischen Depression und hysterischem Lachkrampf. Fünf K? Langsam & locker? Ein Witz, oder?

Egal. Damals war damals – jetzt ist jetzt. Und wenn ich ehrlich bin und weniger weit zurückblicke, sind fünf Kilometer das Gegenteil von nix: Vor vier Wochen hätte ich keine 5 K laufen können. Oder wollen: Das Glas ist halb voll.

Foto: Thomas Rottenberg

Fünf Kilometer sind in Wien eine gute Distanz: eine Runde rund um den Ring. Auf der Fahrbahn ist der Ring ziemlich genau 5,5 Kilometer lang. Auf der Innenbahn entsprechend kürzer. Der Haken: So schön der Prachtboulevard ist, so auswendig kenne ich ihn. Und so fad ist es, ihn zu laufen: nur zahlt sich die Anreise nach anderswohin für mich kaum aus. Nicht, wenn ich wirklich nur einen Fünfer laufen will/kann/soll/darf.

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Den Ring renne ich mit geschlossenen Augen. Das ist schlecht: Was man so tut, das tut man schleißig. Unaufmerksam. Gelangweilt heißt: nicht wirklich da. Da sollte man es gleich lassen: Haushaltsunfälle passieren so. Kletterunfälle. Wenn man Dinge blind und routiniert abspult. Unkonzentriert ist. Im Kopf anderswo … und so weiter: Fahrfehler am Motorrad, Auffahrunfälle, … das gilt auch in Beziehungen: "When routine bites hard and ambitions are low, and resentment rides high – but emotions won't grow" sangen Joy Division 1979: "Love Will Tear Us Apart".

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Fünf Kilometer gegen die Routine. Gegen Einschleif. Für mehr Bewusstsein. "Mindness" – ein blödes Wort, aber es passt. Schritt eins: Mitdenken. Sich dazu zwingen. Dahintraben ist das eine. Jeden Schritt bewusst setzen das andere. Ich rede nicht von Lauf-ABC oder Lauftechnik: Versuchen Sie es beim Gehen, und denken Sie jeden Schritt mit. Was genau tun Füße, Beine, Rumpf und Arme da gerade? Vermutlich halten Sie das so lange durch wie ich: keine Minute. Danach kommt Phase zwei: Brechen Sie mit Gewohnheiten.

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Am Ring ist das einfach. Für mich: Ich laufe auf dem Radweg. Also auf der Idiotie, die vor Jahrzehnten von autofixierten Stadtplanern als seither steter Quell von Zwist, Hader und Kollisionen mit einem einzigen Strich auf dem Gehweg geschaffen wurde und was seither ein Dogma der so visions- wie eierlosen rot-grünen Verkehrspolitik ist: Radfahrer und Fußgänger dürfen sich gegenseitig das Leben schwer machen – aber Auto- und Parkspuren sind tabu.

Ich laufe nicht auf dem Radweg (okay: selten) – und radle nicht am Gehsteig (tatsächlich nie). Aber wenn frühmorgens wirklich nix los ist, kann der kleine Spurwechsel die Aufmerksamkeit steigern. Es reicht zu wissen, dass ich weiter voraus- und immer wieder zurückschauen muss.

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Ein anderes Mittel gegen den Ennui: das Zählen von Stadtschläfern. Klingt zynisch, ist es aber nicht. Wer in der Früh durch die Stadt läuft, wird sein blaues Wunder erleben, wo überall Menschen schlafen. Zu jeder Jahreszeit. Bei jedem Wetter.

Der Blick auf die Stadt bevor sie so tut, als wären im Zentrum alle erfolgreich, dynamisch, gutaussehend und dauerglücklich, relativiert viel vom eigenen Gejammere.

Und da ist noch etwas: Einfach vorbeirennen spielt es nicht. Aus 30 Metern Entfernung ist nämlich nicht zu erkennen, ob da einer mützt – oder kollabiert ist. Auch aus drei Metern ist das schwer: Langsamer werden und hinschauen, ob und wie da geatmet wird, ist zumutbar. So wie das Wählen des Notrufes: Dafür muss man kein Held sein – sondern einfach nur ein Mensch.

Foto: Thomas Rottenberg

Aber manchmal ist Laufen nur Laufen. Auch in der Stadt: Ich finde es amüsant, wie oft Menschen, die vor neun Uhr keinen Fuß vor die Tür setzen, erklären, wie schrecklich ungesund Rennerei im innerstädtischen Bereich ist: Verkehr. Schlechte Luft. Man sei ja selbst Läufer. Aber nur "im Grünen" – weil in der Stadt zu viele Autos herumfahren: Im Prater ist es besser. An der Frage, woher am Nachmittag dort die Läufermassen kommen, wieso aber so wenige Läufer in der U-Bahn sitzen – und wieso der Stadionparkplatz so gut gefüllt ist, kann Freundschaften gefährden. Henne und Ei.

Foto: Thomas Rottenberg

Noch eine Kleinigkeit wider die Fadesse: Treppen. Ich kenne Läuferinnen und Läufer, die strikt jede noch so kleine Treppe nehmen. Ich bin weniger rigoros, baue Treppen aber gerne ein: So flach und kurz können sie gar nicht sein, dass der Puls nicht drauf reagiert. Das Schrittmuster sowieso.

Treppen wie die beim Motto am Fluss sind besonders "g'fernst": Die einzelnen Stufen sind genau um jenes Eitzerl zu kurz oder zu lang, das mich hier einen vernünftigen Rhythmus finden ließe. Ob diese Nicht-Fisch-nicht-Fleisch-beinahe-Rampe-aber-doch-nicht für Kinderwägen, Rollstühle und andere Menschen mit Handicap tatsächlich so viel bringt, wage ich zu bezweifeln. Aber wenn doch: 1.000 Rosen.

Foto: Thomas Rottenberg

Zettelgedichte. Ich gebe zu: Ich habe nur die Kamera hingehalten und bin weder stehen geblieben noch habe ich "gepflückt". Das habe ich eigentlich noch nie getan: "Zettelgedichte" klebten schon in meiner Schulzeit an Säulen und Geländern im öffentlichen Raum. Spannend daran war nur der jahrelange Kampf zwischen Poet und Amt, in dem man einander gegenseitig mit Anzeigen und Klagen bepickte. Irgendwann erlahmte mein Interesse. Aber vielleicht haben die Beteiligten einfach einen Modus vivendi gefunden – oder es sind neue Beamte und neue Klebedichter am Werk, denen das Werken und Wirken des "Gegners" einfach wurscht ist.

Foto: Thomas Rottenberg

Noch ein Wiener Laufdings auf meiner To-Do-Liste: der Adidas-Laufschuh-Leihautomat beim Badeschiff. Ich nehme mir schon seit Jahren vor, hier einmal Schuhe auszuborgen. Nur: Irgendwie kommt es nie dazu. Vielleicht, weil ich – bis ich hier bin – schon ein paar Kilometer in den Beinen habe. Warum sollte ich jetzt noch Schuhe tauschen? Andererseits: Wenn alle so dächten, wäre die Kiste nicht mehr hier: So ein genialer Standort ist dieses Eck auch nicht.

Und auch hier gilt: der kurze Blick, ob der Schläfer wirklich nur schläft.

Foto: Thomas Rottenberg

Noch ein Trick, um nicht in der Eintönigkeit der Einheitsstrecke zu versacken: Läufer und Läuferinnen zählen. Geschlecht, Einzel- oder Gruppenaktivisten und -innen. Farben, Tempo oder Sympathiewerte. Zusätzlich lässt sich noch das Grüßen-Spiel einbauen: Wer grüßt zurück? Nach kurzer Zeit merkt man, dass Wien ein Dorf ist – und wenn man zwei Drittel der Leute kennt, finde ich das nett. Andere wechseln dann die Laufregion. Geschmackssache.

Foto: Thomas Rottenberg

Okay, ich habe geschummelt. Aber das haben Sie eh gemerkt. Einfach nur auf der Innenbahn dackeln, wäre zu sehr ereignislos gewesen. Außerdem wollte ich – Sandrina vergib! – den Fünfer ausreizen: mit der einen oder anderen Extrakurve …

Außerdem würde dieser Geschichte ohne die Yogagruppe im Stadtpark etwas fehlen: Auch wenn es nach dem Gegenteil aussieht, praktizieren die Menschen auf diesem Foto Sonnen-Yoga. ("sunyoga.com" sagte einer – nur: Der Link ist nicht wirklich aktiv.) Dass es hier um die Sonne geht, habe ich aber erst rausgekriegt, als ich bei den auf mehreren Schichten Iso-Decken und -Matten sitzenden, dick eingemümmelten Menschen stand.

Foto: Thomas Rottenberg

Ich mag Yogis. Nicht nur, weil sie meistens superfreundlich sind und Offenheit mit Offenheit, Lachen mit Lachen und Herzlichkeit mit Herzlichkeit beantworten, sondern weil sie mit dem, was sie sagen, oft gnadenlos recht haben. Auch wenn es zuerst einmal Eso-Geschwurbel aus dem Lehrbuch ist: "There are no clouds. The only thing that is blocking the sun is your mind."

Das Blöde: Der Mann hat recht. Und zwar auf ganzer Meta-Linie: Es geht darum, wie man auf Dinge zugeht. Was man aus ihnen macht. Welche Bedeutung man ihnen beimisst – und wie man Wert und Wertigkeiten definiert: Halb voll oder halb leer? Fade fünf Kilometer – oder ein kurzer, sehr bewusster Lauf mit bewusstem Fokus auf Normalität? "The only thing that is blocking the sun is your mind." Wo darf ich unterschreiben?

Foto: Thomas Rottenberg

Es geht um die offenen Augen. Am Goethe-Denkmal bin ich tausendmal vorbeigelaufen. Ich habe es nie beachtet. Darum ist mir die Stiefelspitze des Dichterfürsten nie aufgefallen. Blankgewienert durch die Hände von Millionen Touristen, die hier für ein Pflichtfoto posieren.

Anderswo fällt mir derlei auf: Die von Millionen Pfoten glattpolierten Fresken von Angkor Wat etwa. Oder die von abertausenden Gläubigen zu glänzenden Marmorspiegeln abgegriffenen, abgeleckten oder abgeküssten Füße, Hände oder Rocksäume von Heiligenstatuen, egal wo: Dass Kranke und Siechende sich von der Berührung Heilung oder Linderung erwarten, halte ich seit einem Besuch der Begräbniskirche in Jerusalem für einen Gottesbeweis: Der Stein auf dem Leichnam Jesu, angeblich einbalsamiert und gesalbt, wird von Heerscharen an Gläubigen umlagert. Berührt und – ich habe es gesehen – geküsst. Viele wischen mit der Leibwäsche der todkranken Mutter über den Stein – dort, wo Sekunden danach Menschen ihre nässenden Wunden und Schrunden und ihre Lippen hinpressen. Mit (hier inexistenter) Hygiene alleine wäre es unmöglich, an dieser Stelle die Verbreitung von Seuchen zu unterbinden: Da ist Gott im Spiel.

Foto: Thomas Rottenberg

Doch der schönste Teil im 5K-Kleinmosaik war für mich diesmal der Schlussstein. Schon fast zurück am Ausgangspunkt der kurzen Runde kreuzte diese Gruppe meinen Weg: Vater, Mutter und drei Kinder. Laufend. Fröhlich. Lachend. Gemeinsam.

Natürlich dürfe ich fotografieren. Natürlich auch die Gesichter der Kinder zeigen. Natürlich erzählen sie mir ihre Geschichte: "We come from Denmark – and we run. It is not about speed. It is not about pace. It is not about winning. It is about life: Doing what you love with the ones you love – and nothing else matters." (Thomas Rottenberg, 20.7.2016)

Foto: Thomas Rottenberg